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Eroberer

Eroberer

Titel: Eroberer
Autoren: Stephen Baxter
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kleine Kinder, die schon laufen konnten, trugen Bündel auf Rücken und Kopf. Sie sahen abgespannt, unglücklich, furchtsam und unsicher aus.
    Höchstwahrscheinlich waren sie alle Christen. Unter ihnen befanden sich Geistliche mit Tonsuren im britischen Stil, wobei die vordere Hälfte des Kopfes von einem Ohr zum anderen kahl geschoren war, während das Haar hinten lang herabhing. Der Mann, der sie anführte, trug jedoch eine römische Tonsur mit kreisrund geschorenem Scheitel. Und auf ihrem Weg sangen die Pilger und erzeugten eine durchdringende, unirdische Musik, die zum Himmel emporstieg, wo der haarige Stern noch heller leuchtete.
    Ulf beäugte das alles mit offenem Mund. »Was ist dieses große Gebäude? Ein Lagerhaus?«
    »Nein, eine Kirche. Eine Kathedrale, wie sie es nennen.« Die Kathedrale war jünger als die Stadt. Man hatte sie aus wiederverwendeten Steinen erbaut; wo der Blendstein fehlte, sah man Stücke von Säulen und Statuen, die zerbrochen und als Füllung benutzt worden waren. Aber die wiederverwendeten Dachziegel waren geborsten, das Glas in den Fenstern war zerschlagen. Nichts hier war neu, dachte Wuffa; es gab nur verschiedene Altersstufen.

    »Hat euer Großkönig diese Kirche erbaut?«, fragte Ulf.
    »Nein, Aethelberhts Kirche ist dort.« Wuffa zeigte nach Norden.
    »Wozu braucht ihr zwei Kirchen?«
    »Der König ist ein Anhänger des römischen Christentums. Augustins Bischöfe haben ihn bekehrt. Diese Kirche ist von britischen Christen errichtet worden.«
    Ulf dachte darüber nach. »Das verwirrt mich noch mehr.«
    »Die Fußgänger sind alle britische Christen. Glaube ich. Ihr Anführer ist ein Römer, ein Bischof.«
    »Und warum folgen sie ihm, wenn er keiner der Ihren ist?«
    »Ich …« Wuffa breitete die Hände aus. Er wusste so gut wie nichts über die Christen. Er beobachtete ihr Verhalten nur von außen, als wären sie exotische Vögel. »Sie gehen endgültig weg. So was passiert ständig. Schau.« Wuffa zeigte hin. »Siehst du den Schmuck? Sie tragen ihre Reichtümer am Körper. Das sind die Leute, die deine Münzschätze vergraben. Ihre Kirche organisiert die Flucht.«
    »Wohin wollen sie?«
    »Vielleicht nach Westen, oder übers Meer nach Gallien.«
    »Weg von euch Sachsen.«
    Wuffa grinste. »Weg von uns, ja.«
    »Wenn sie all diese Reichtümer so offen zur Schau tragen, sind sie leichte Beute.«
    Sie wechselten einen weiteren Blick. Aber dann
wandten sie sich ab, ohne den Gedanken zu Ende zu führen. Offenbar war keiner von ihnen ein geborener Dieb, dachte Wuffa.
    Mitten auf der Straße brannte ein Feuer, und die Hymnensänger mussten ausweichen, um daran vorbeizukommen. Zwei Sachsen plünderten gerade ein verlassenes Haus; sie waren von gröberem Schlag als die angeheuerten Krieger, welche die Flüchtlinge begleiteten. Die Plünderer hatten offenkundig nicht viel Glück. Sie warfen alte Kleider und zerbrochene Möbelstücke aus dem Haus und ins Feuer – und Bücher, aufgerollte Pergamentrollen, abgeschabtes Leder und Haufen hölzerner Täfelchen, die sich kräuselten und knackten, während sie schwarz wurden. Die meisten Pilger gingen mit abgewandtem Blick an dieser Szenerie vorbei.
    Doch ein alter Mann, dem die Toga um den knochigen Körper flatterte, löste sich aus der Kolonne und versuchte, den Sachsen die Bücher abzunehmen. Sein Geschrei war eine holprige Mischung aus Britisch und Latein: »Oh, ihr heidnischen Rohlinge, ihr analphabetischen Barbaren, müsst ihr auch noch unsere Bücher vernichten?« Eine junge Frau rief ihn zurück, aber Freunde hielten sie fest.
    Die beiden Plünderer sahen den zeternden Alten verdutzt an. Dann beschlossen sie, sich einen kleinen Spaß zu gönnen. Sie schubsten den Alten, sodass er auf den staubigen Boden fiel, hoben ihn dann an seinen dürren Armen und Beinen hoch und streckten ihn wie ein Schwein am Spieß. Die schmutzige Toga fiel in
Stoffschlingen vom Körper des alten Mannes und gab den Blick auf einen schmuddeligen Kittel und eine Art Lendenschurz frei.
    Die junge Frau brüllte die angeheuerten Krieger an, etwas zu unternehmen, aber die zuckten nur die Achseln. Der Alte hatte die Plünderer provoziert; es war seine eigene Sache. Selbst der Bischof marschierte weiter, aus voller Kehle seine Hymnen singend, als wäre nichts geschehen.
    Jetzt hoben die Plünderer den Alten hoch und hielten ihn übers Feuer. Die Flammen der brennenden Bücher züngelten zu dem losen Togastoff hinauf, und die Schreie des alten Mannes verwandelten
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