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Erinnerung an meine traurigen Huren

Erinnerung an meine traurigen Huren

Titel: Erinnerung an meine traurigen Huren
Autoren: Gabriel García Márquez
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gewesen, bevor er bei einem Zugunglück sein gesamtes Lächeln verlor.
    Nach jenem bitteren Besuch spürte ich ein Herzstechen, das ich auch mit allerlei Hausmittelchen in drei Tagen nicht lindern konnte. Der Arzt, zu dem ich in meiner Not ging, Spross eines vortrefflichen Stammes, war der Enkel desjenigen, den ich mit zweiundvierzig aufgesucht hatte, und es erschreckte mich, dass ich ihn für eben diesen hielt, da er mit seiner vorzeitigen Glatze, den Brillengläsern eines hoffnungslos Kurzsichtigen und seiner untröstlichen Traurigkeit so alt aussah wie sein Großvater mit siebzig. Konzentriert und mit der Sorgfalt eines Goldschmieds untersuchte er meinen ganzen Körper. Er hörte Brust und Rücken ab, prüfte den Blutdruck, die Kniereflexe, den Augenhintergrund, die Färbung des Unterlids. In den Pausen, während ich auf der Untersuchungsliege die Position wechselte, stellte er mir dermaßen schnell vage Fragen, dass ich kaum Zeit hatte, mir die Antworten zu überlegen. Nach einer Stunde sah er mich glücklich lächelnd an. Nun gut, sagte er, ich glaube, ich kann nichts für Sie tun. Was wollen Sie damit sagen? Dass Ihr Zustand der bestmögliche für Ihr Alter ist. Merkwürdig, sagte ich, es ist, als ob die Zeit nicht verginge. Das Gleiche hat mir Ihr Großvater gesagt, als ich zweiundvierzig war. Sie werden immer einen finden, der Ihnen das sagt, meinte er, weil Sie immer ein bestimmtes Alter haben werden. Als wollte ich ihn zu einem furchterregenden Urteil provozieren, sagte ich: Das einzig endgültige Alter ist der Tod. Ja, sagte er, aber es in so guter Verfassung zu erreichen wie Sie, ist nicht leicht. Es tut mir wirklich leid, Ihnen nicht gefällig sein zu können.
    Daran erinnerte ich mich gerne, doch am Vortag des 29. Augusts, als ich eisernen Schritts die Treppe meines Hauses erklomm, spürte ich das maßlose Gewicht des Jahrhunderts, das mich voller Gleichmut erwartete. Dann sah ich noch einmal Florina de Dios, meine Mutter, sie lag in meinem Bett, das bis zu ihrem Tod das ihre gewesen war, und sie gab mir den gleichen Segen wie damals, als ich sie zum letzten Mal sah, zwei Stunden bevor sie starb. Völlig durcheinander vor Rührung begriff ich dies als letzte Ankündigung und rief Rosa Cabarcas an, sie solle meine Kleine in eben dieser Nacht kommen lassen, denn ich sah voraus, dass sich meine Hoffnung, den letzten Atemzug meines neunzigsten Jahrs zu überleben, nicht erfüllen würde. Um acht Uhr rief ich noch einmal an, aber Rosa wiederholte, es sei nicht möglich. Es muss möglich sein, koste es, was es wolle, schrie ich sie in Panik an. Sie hängte auf, ohne sich zu verabschieden, doch fünfzehn Minuten später rief sie wieder an.
    »Nun gut, hier hast du sie.«
    Ich traf um zwanzig nach zehn bei Rosa Cabarcas ein und übergab ihr die letzten Briefe meines Lebens, in denen ich Verfügungen zu Gunsten der Kleinen nach meinem schrecklichen Ende getroffen hatte. Sie dachte, die Geschichte mit dem Erstochenen ginge mir noch nach, und sagte spöttisch: Wenn du sterben willst, dann bitte nicht hier. Ich aber erwiderte: Sag einfach, mich habe der Zug nach Puerto Colombia überrollt, diese jämmerliche Schrottkiste, die keinen in den Tod befördern kann.
    Ich war auf alles vorbereitet, als ich mich in dieser Nacht aufs Bett legte und jenen finalen Schmerz im ersten Augenblick meines einundneunzigsten Jahrs erwartete. Ich hörte ferne Glocken, spürte den Seelenduft von Delgadina, die auf der Seite schlief, hörte einen Schrei am Horizont und die Schluchzer von jemandem, der vielleicht vor einem Jahrhundert in diesem Zimmer gestorben war. Dann löschte ich mit letzter Kraft das Licht, verschränkte meine Finger mit den ihren, um sie an der Hand mitzu-nehmen, und zählte die zwölf Glockenschläge der Mitternacht mit meinen zwölf letzten Tränen, bis dann die Hähne zu krähen begannen und gleich darauf die Siegesglocken läuteten, die Feuerwerkskörper krachten und vom Jubel kündeten, dass ich meine neunzig Jahre gesund und munter überlebt hatte.
    Meine ersten Worte waren an Rosa Cabarcas gerichtet: Ich kauf dir das Haus ab, ganz und gar, mit Laden und Obstgarten. Sie sagte zu mir: Lass uns doch vor dem Notar eine Abmachung unter alten Leuten treffen: Wer als Erster stirbt, vermacht alles dem anderen. Nein, denn wenn ich sterbe, soll alles für die Kleine sein. Das kommt aufs Gleiche raus, sagte Rosa Cabarcas, ich kümmere mich um sie und hinterlasse ihr dann alles, deines und meines; ich habe sonst keinen
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