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Erich Kastner

Erich Kastner

Titel: Erich Kastner
Autoren: Gullivers Reisen
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Kampf mit den Wespen beschrieb, die größer gewesen waren als bei uns die Habichte.
    Ich würzte meine Erklärungen und Beschreibungen mit Sätzen, die des Nachdenkens wert waren. An einen der Sätze erinnere ich mich noch. Er stammte vom Doktor Jonathan Swift, einem hochgelehrten Mann voller Phantasie, und lautet: »Die Philosophen haben zweifellos recht, wenn sie behaupten, daß nichts an und für sich klein oder groß ist, sondern einzig und allein im Vergleich mit anderem.« Die drei Wespenstacheln schenkte ich später der Universität Oxford, in deren naturwissenschaftlichem Kabinett sie noch heute Staunen erregen.
    Das alles ist rund zwanzig Jahre her. Soeben ist, aus dem Wipfel über mir, ein roter, reifer Apfel auf den Tisch gefallen, und da mußte ich an jenen Riesenapfel denken, der mich damals im Garten des Königs um ein Haar erschlagen hätte. Der königliche Hofzwerg saß versteckt im Baum und rüttelte an einem Zweig. Denn er war eifersüchtig, weil ich viel, viel kleiner war als er und ihn deshalb, seit ich am Hofe war, niemand mehr beachtete. Der Apfel, der donnernd neben mir zu Boden fiel, war achtzehnhundertundzwölfmal so groß wie unsere Äpfel. Einen Riesenschritt weiter links, und ich wäre mausetot und Apfelmus gewesen. Eigentlich habe ich immer Glück gehabt. Sogar wenn die Schiffe, auf denen ich fuhr, im Sturm zerbrachen und versanken, wurden für mich aus den Unglücksfällen Glücksfälle. Ich kam zu den Zwergen und zu den Riesen und zu Geld. Und an Erinnerungen wurde ich reicher als ein Millionär. Ich will nicht geizig sein. Ich will sie verschenken, indem ich sie aufschreibe. Für alle Menschen, die neugierig sind. Für die Gelehrten, fürs Volk und für die Kinder.
GULLIVERS REISE NACH LILIPUT WASSER HAT KEINE BALKEN
    Kaum daß ich in Cambridge studiert und bei Professor Bates, dem bekannten Londoner Arzt, als Assistent allerlei Nützliches hinzugelernt hatte, ging ich zur See. Ich machte weite Reisen und verdiente dabei mein Brot. Was wollte ich mehr? Doch drei Jahre später heiratete ich, und Mary sagte, sie sei nicht nur dazu da, um ihrem Mann vom Hafen aus nachzuwinken. Deshalb versuchte ich mein Glück in London. Doch das Glück kam nicht. Es gab genug kranke Leute, aber sie gingen zu anderen Ärzten, und das Geld, das Mary in die Ehe mitgebracht hatte, schmolz wie Butter in der Sonne. John kam zur Welt, ein Jahr später Betty, und so half es nichts: Ich mußte wieder Schiffsarzt werden. Am 4. Mai 1699 lichtete die »Antilope« in Bristol die Anker. Mary stand mit den Kindern am Kai und winkte mir nach.
    Das Schiff fuhr nach Ostindien, und die ersten Monate ging alles gut. Ich hatte nicht viel zu tun. Ich behandelte einen Beinbruch, zwei Blinddärme, drei Darmkoliken, vier Furunkel und fünf hohle Zähne. Auch Wind und Wetter boten nichts Außergewöhnliches. Aber Ende Oktober gerieten wir in einen fürchterlichen Sturm, der kein Ende nehmen wollte. Drei Matrosen wurden über Bord gespült, zwei von einem Mast erschlagen, sieben starben durch Überanstrengung, die Meßinstrumente fielen aus, der Kapitän wußte nicht mehr, wo wir waren, und am 5. November lief das Schiff bei Nacht und Nebel auf ein Riff. Die »Antilope« zerbrach und versank.
    Ich weiß nur noch, daß ich mit fünf Matrosen in einem Rettungsboot saß und daß wir aus Leibeskräften ruderten, um von dem Felsen fortzukommen. Nach ungefähr einer Stunde kenterte das Boot. Es war noch immer tiefe Nacht, und ich hielt mich mühsam über Wasser, ohne Hoffnung und dennoch entschlossen, meine letzte Minute bis zur letzten Sekunde zu verteidigen. Da, mit einem Mal, fühlte ich Grund unter den Füßen! Ich richtete mich auf. Ich watete und stolperte vorwärts. Das Wasser wurde flacher und flacher. Ich betrat festen Boden. Ich spürte kurzes weiches Gras. Wo befand ich mich? Nirgends blinkte ein Licht. Nirgends ertönte ein Laut. Nirgends gab es einen Weg oder ein Haus, nirgendwo einen Menschen. Nun, fürs erste war ich gerettet! Ich ließ mich ins Gras sinken und schlief ein. Als ich am nächsten Morgen erwachte, schien mir die Sonne so grell ins Gesicht, daß ich mich umdrehen wollte. Doch ich konnte mich nicht umdrehen! Nun wollte ich die Hände vors Gesicht legen. Aber die Hände rührten sich nicht!
    Dann wollte ich mich aufsetzen. Es mißlang! Ich wollte den Kopf heben. Auch das war unmöglich! Ich konnte ihn nicht einmal zur Seite drehen, so sehr riß es mich an den Haaren. Erschöpft und von der Sonne geblendet,
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