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Erich Kastner

Erich Kastner

Titel: Erich Kastner
Autoren: Gullivers Reisen
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zweimal zu besichtigen. Wer das Gesetz übertrat, kam ins Gefängnis. Für den Kaiser selber galt das neue Gesetz natürlich nicht. Denn er hatte es ja erlassen. Seine zweite Sorge war nicht geringer, und am deutlichsten konnte ich sie ihm anmerken, wenn ich im Gras lag und er mir beim Essen und Trinken zusah. Sechshundert Lakaien bedienten mich. Hofkutscher fuhren mit schwerbeladenen Wagen vor, und ich kippte Speise und Trank wagenweise in den Mund. Das Gesicht des kleinen Kaisers, unter dem blitzenden Goldhelm mit dem bunten Federbusch, wurde von Fuhrwerk zu Fuhrwerk trauriger und trauriger: Eines Tages kamen ihm sogar die Tränen. Als ich ihn nach dem Grunde fragte, trat er an mein Ohr und sagte: »Lieber Doktor Gulliver, du frißt zuviel und du trinkst zuviel. Wenn das noch lange so weitergeht, wird in meinem Reich eine Hungersnot ausbrechen.« Ich versprach ihm, mich zu bessern. Doch er antwortete, das verstoße gegen die Gastfreundschaft. Ihm werde vielleicht ein Ausweg einfallen. Vierzehn Tage später erfanden er und seine Minister die Lebensmittelkarten. Jeder Einwohner erhielt an Fleisch, Brot, Käse, Butter, Milch, Bier und Wein, gegen Abschnitte aus Papier, nur das Notwendigste zum Leben. Und weil mich die Liliputaner gernhatten und ich erst ein paar Wochen im Lande war, fanden sie sich damit ab. Für den Kaiser selber galt das neue Gesetz natürlich nicht. Denn er hatte es ja erlassen. Die Zeit verging und brachte, wie das so ihre Art ist, Angenehmes und Unangenehmes mit sich. Am erfreulichsten war, daß ich ein Bett erhielt. Es wurde aus sechshundert Liliputbetten zusammengefügt, und die Matratzen lagen dreißigfach übereinander. Jetzt endlich taten mir morgens beim Aufwachen die Knochen nicht mehr weh.
    Am unerfreulichsten war, daß die Sicherheitspolizei zehn Kriminalbeamte schickte, die, zum Gaudium der Volksmenge, in meine Taschen kletterten und alle Gegenstände beschlagnahmten, die ihnen gefährlich erschienen, unter anderem den Kamm, das Taschenmesser, ein Schnupftuch, die Tabakdose, die Uhr und die Pistole samt Pulverhorn und Bleikugeln. Da sie nicht wußten, was eine Pistole sei, mußte ich sie, trotz meiner Warnungen, laden und einen Schuß abfeuern. Und obwohl ich in den Himmel zielte, fielen dreihundertsiebzehn Erwachsene und vier Kinder bei dem Knall in Ohnmacht. Einer der Polizeileute fiel nicht nur in Ohnmacht, sondern hierbei in die Tabakdose und hätte sich beinahe totgeniest. Anschließend wurden die Gegenstände unter strenger Bewachung ins Arsenal transportiert. Die Taschenuhr hängte man an einen Baumstamm, den zwölf Möbelpacker schulterten und keuchend zur Stadt schleppten. Auf halbem Wege machten sie halt, weil sie vom Uhrenticken Kopfschmerzen gekriegt hatten. Und sie gingen erst wieder an die Arbeit, nachdem ein berittener Apotheker Watte für die Ohren gebracht hatte. Das einzige, was die Polizei nicht entdeckte, war meine Geheimtasche mit der Brille und dem Taschenfernrohr. Trotz seiner Sorgen war mir der Kaiser wohlgesinnt. Und wenn er nicht regieren mußte, sondern nachdenken konnte, ließ er sich immer etwas Hübsches einfallen, damit ich mich nicht langweilte. So hielt er eines Tages eine große Parade ab, wobei sämtliche Infanterie-und Kavallerieregimenter mit klingendem Spiel zwischen meinen gegrätschten Beinen hindurchmarschieren mußten. Ich blickte auf die Truppen hinunter. Die Offiziere salutierten mit dem Degen. Und ich zog vor jedem Regimentskommandanten, der unter mir hindurchschritt, höflich den Hut. Die Parade verlief ohne Zwischenfälle, obwohl sie fünf Stunden dauerte und ich vorübergehend einen Wadenkrampf bekam. Einer der Professoren, die mir Unterricht in Liliputanisch erteilten, erzählte mir allerdings, ein Leutnant habe, als er unter mir durchmarschierte, hochgeblickt, über meinen fadenscheinigen Hosenboden gelacht und drei Tage Stubenarrest erhalten. Ich erwirkte beim Kaiser, daß dem jungen Mann der dritte Tag erlassen wurde.
    Ein andermal ließ der Monarch mein Taschentuch aus dem Arsenal holen. Ich mußte es vielmehr auf der Erde ausbreiten und, als sich vierundzwanzig Lanzenreiter darauf versammelt hatten, ausgespannt in die Luft heben. Dort vollführten sie Scheingefechte und andere Reiterspiele so sicher und elegant, als ritten sie in ihrer Kaserne auf der Reitbahn. Leider hatte das Taschentuch ein Loch, so daß sich ein Pferd beim Galoppieren die linke Hinterhand verstauchte. Den größten Spaß bereitete mir die öffentliche
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