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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind
Autoren: Robert Holdstock
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konnten. Atemlos und erschöpft spähten sie unter sich, wo der Fluß g e rade noch als dünnes Silberband erkennbar war, das sich in bizarren Windu n gen durchs Tal fädelte. Von Gorstein oder auch von seiner Le i che war nichts zu sehen; aber sie waren sich klar darüber, daß man außergewöhnlich gute Augen haben müßte, um einen reglosen menschlichen Kö r per auszumachen; allenfalls hätte man ihn sehen können, wenn er sich bewegte.
    Moir erkundete den Grat – es war mehr ein Plateau –, und bald verschwand ihre schlanke Gestalt in der sich vertiefe n den Du n kelheit. Manchmal sahen sie sie durch den Schnee waten, auf einen Aussichtspunkt zu, der nur wenig höher war als das Plateau selbst.
    Überall lag Schnee; er bedeckte die Fläche etwa eine ha l be Meile weit, bis sich der Berg wieder zu seinem Gipfel türmte. Man ha t te den falschen Eindruck, sich auf ebenem Boden zu befinden, doch Iondai meinte, es sei ein gefährl i ches Gebiet voller Fel s brocken und Löcher. „Da müssen wir ganz vorsichtig gehen“, sagte er; „so habe ich es auch g e macht, als ich vor Jahren hier war, und ich kam ohne Zw i schenfall hinüber. Wir werden gut daran tun, wenn wir es ebenfalls so machen.“
    Zum erstenmal wandte Elspeth sich um und sah sich die Berge hinter ihr, die eisige Fläche vor ihr richtig an. Daß sie zitte r te, kam, wie sie wußte, nicht nur von der Kälte. Oder vielleicht war die Kälte noch etwas anderes als nur niedrige Temperatur. Sie kuschelte sich an Iondai und blickte Darren nach, der vorsichtig einen Fußpfad bis zur nächsten (und let z ten) Phase des Aufstiegs austrat. Obgleich sie im Ve r gleich zur Gipfelhöhe überhaupt noch nicht richtig geklettert waren, lag ihr Ziel bereits hinter der nächsten eisigen Fel s wand – eine Tagesstrecke vielleicht. Noch ein Tag bis zur Höhle.
    Alle paar Sekunden verschwand Darren hinter der nebl i gen Wolke ihres Atems, die so rasch kam, als sei sie e r schöpft; doch nicht die Erschöpfung ließ sie so schnell a t men. Als die Dunkelheit den Glanz des Schnees dämpfte, wurde sie etwas ruhiger. Jetzt wurde der Schnee zu einem stumpfen grauen Teppich, kalt bei der Berührung, aber nicht mehr so bedro h lich. Jetzt konnte sie darüber nachdenken, warum sie diesen an sich unschuldigen Stoff so haßte. Schnee verursachte ihr T o desangst, sie reagierte panisch, wenn sie Schnee berührte – manchmal sah sie ein G e sicht, ein vertrautes Gesicht, unter dem Schnee begraben; in der Ferne schien eine Stimme zu rufen, doch sie konnte die Worte nicht verstehen … Was b e deutete das alles? Woher kam es?
    Sie wickelte sich fester in ihren Mantel und verdrängte den G e danken aus ihrem Hirn.
    An der Felswand vor ihr hob sich jetzt ein Muster ab; ein inzw i schen wohlvertrautes Ornament, ein Spiralenmuster, das sich mehr und mehr in ihrem Bewußtsein nach vorn drängte. Die Halluzination war so lebendig, daß sie sich au f richtete und sich wunderte, weil ihr dieses riesige Bild erst jetzt auffiel. Fast zwanghaft hob sie die Hand und zeichnete das Muster in der Luft nach, vom Zentrum der einen Do p pelspirale bis ins Herz der nächsten. Iondai sah ihr zu und erkannte das Symbol.
    „Der Erdwind“, sagte er.
    „Es ruft mich, Iondai. Es ist immer in meinem Kopf, es lockt mich, winkt mir …“
    Es entschlüpfte ihrem Zugriff wurde unberechenbar, tan z te im letzten Moment hinweg; und während sie noch zu ve r stehen suc h te, was sie dort oben sah, kroch bereits hinter ihr das Dunkel heran und griff nach ihr …
    „Es gab einmal eine Geschichte; jetzt ist es nur noch ein Stück von einem Heldenlied aus der Frühzeit des crog: daß der Er d wind die Menschen gerufen hat und sie ihm hörig gewo r den sind. Keiner war frei von ihm, und sie griffen nach dem Erdwind ger a de so, wie du es jetzt tust …“
    Sein Blick war weit weg, oben auf dem Berg, wo die Höhle lag, und ging in die Höhle hinein …
    „Hat er dich auch gerufen?“ fragte sie. „Siehst du ihn vor Augen, tanzt er vor dir einher?“
    Iondai schüttelte den Kopf. „Er hat nur die ersten Me n schen g e rufen. Seitdem leben wir in seinem Schatten und verehren ihn. Er gibt uns das Lied der Erde …“
    Elspeth unterbrach ihn. „Wie meinst du das – er hat nur die e r sten Menschen gerufen? Hat er sie hierher gerufen? Zur Höhle?“
    „Die ersten Menschen wurden in der Höhle geboren“, e r widerte Iondai lächelnd. „Der Erdwind kam von jenseits der A b soluten Finsternis und machte sich die
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