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Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)

Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)

Titel: Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
Autoren: Oliver Uschmann , Sylvia Witt
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wurde 1937 gebaut und steht seit zwölf Jahren leer. Sie war mir immer schon aufgefallen, wenn ich nach Berlin fuhr. Eine verfallene Tribüne am Rande einer Autobahn. Dieses Bild bescherte mir jedes Mal einen Schauer auf dem Rücken, ähnlich wie stillgelegte Schwimmbäder mit trockenen Becken. Bei alten Burgen oder Schlössern ist das nicht so. Die bekommen einen Tresen mit Museumskasse. Sie leben neu auf, und die Vergangenheit in ihnen wird zu einer Attraktion der Gegenwart. Bauwerke wie die Avus-Tribüne aber, die niemand zum Museum macht, die aber auch nicht abgerissen werden, weil sie denkmalgeschützt sind, halten die Vergangenheit fest wie eine vertrocknete, staubige Leiche, die dich anstarrt. Ich habe mir nie vorstellen können, diese Leiche aus Holz und Beton zu betreten. Dieser Nicht-Ort würde sofort meine Seele auflösen, dachte ich, und daher ist er heute genau richtig für mich. Noch besser als die surrende Sitzecke im Treppenhaus.
    Jeden Tag, wenn es dunkel wird, verlasse ich das Hotel, schleiche über den Parkplatz und nehme den langen Weg außen rum über die Halenseestraße und den Messedamm. Die Rückseite der Tribüne liegt gegenüber dem Messegelände, Einfahrt Tor 9. Ein Stück weiter wartet kahler Baugrund auf neues Geschäftsleben. In der Tiefe dahinter leuchten die Flutlichter des Mommsenstadions. Die S-Bahn rattert zur Station Messe-Süd/Eichkamp. Autobahnspuren führen nach Wedding, Hamburg und Dresden. Über allem ragt der hohe Funkturm auf, der mich beobachtet, wo immer ich stehe. Er ruft mir zu: »Sieh hin, hier ist überall Leben! Verkehr, Messe, Sport. Du bist mitten im Leben!«
    Das ist es ja gerade. Ich bin wie diese alte Tribüne. Umrauscht von Leben und gleichzeitig allein und verrottet. Der Bürgersteig führt unter der Tribünenschräge zwischen den Säulen und der Wand mit den ehemaligen Eingangstüren entlang. Die Kassenfenster wurden zugemauert. Auf orangen Streifen sind 18 Nummern aufgemalt.
    »Was soll das jetzt werden?«, fragte mich der Funkturm, der mich als Einziger in der Nacht gesehen hat, als ich mit dem Bolzenschneider den Stacheldraht aufknipste, der an den Seitenflanken der Tribüne den Zutritt verhindern soll. Den Bolzenschneider, ein paar Schutzhandschuhe aus Kettengliedern und einen Müllgreifer zu besorgen war der einzige Grund, aus dem ich dieses Viertel bislang verlassen habe. Jeden Morgen um halb fünf, wenn ich die Tribüne wieder verlasse, hebe ich den Bauzaun in seine Fassung zurück, packe den Stacheldraht mit dem Müllgreifer und drapiere ihn so, dass man auf den ersten Blick nicht erkennen kann, dass er durchgeschnitten ist. Das reicht, denn hier schaut sowieso keiner zweimal hin. Arbeiter der Firma, die hier irgendwann mal zwei Baugerüste hineingezwängt hat, zeigen sich nicht. Die Polizei ignoriert die Tribüne, weil sie niemanden dort erwartet. Der Denkmalschutz räumt nicht mal den Müll weg, der sich auf dem Grün neben den Mauern sammelt.
    »Du hast doch einen sitzen! Ein Fliewatüüt im Hirn!«, schimpft der Funkturm. Bin ich einmal in der Tribüne, laufe ich auf dem schmalen Gang vor den Sitzreihen bis zur Mitte, wo Stufen auf die erste Ebene führen. Langsam schreite ich in die elfte Reihe hoch, fröstelnd im stockdunklen Magen des Monsters. Das ist mein Ritual. Jede Nacht. Ein Nicht-Ort als Heimat nach einem Un-Fall. So haben sie es doch genannt, was mit Lisa passiert ist und was uns alle auseinandergerissen hat. Ein Fall, der eigentlich gar nicht sein kann. Das Leben geht weiter, sagt man. Das stimmt, aber es ist ein Un-Leben, tot wie diese Tribüne. Auf dem fauligen Holz beobachte ich die Autos in der Nacht unten auf der Bahn. Schräg gegenüber wartet um 5.30 Uhr das Frühstück auf mich. »Ich kaufe bald kein fades Müsli mehr, das sage ich Ihnen. Dann müssen Sie das Rührei und den Bio-Schinken probieren!« Nach dem Müsli gehe ich ins Zimmer und sperre den Tag aus. Ich bin der Geist der Tribüne. So soll es sein.
    Das Geld für die Miete nehme ich aus meinen Anteilen an unserer Taxifirma, die ein junger Investor gekauft hat und für die Mario heute noch fährt, während Jochen in der Retro-WG sein zweites Buch über B-Filme schreibt. Es hat weh getan, sich von Yannick zu trennen, aber ich weiß, dass mein Kater in guten Händen ist. Vor knapp zwei Jahren waren wir alle gemeinsam freiwillig in Motels unterwegs, auf Tournee mit Caterinas Wanderausstellung. Ich hätte damals sofort Licht ins Zimmer gelassen und die Playstation an den
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