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ePub: Ashes, Ashes

ePub: Ashes, Ashes

Titel: ePub: Ashes, Ashes
Autoren: Jo Treggiari
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zu fassen, und wieder wäre sie ihm fast entglitten – doch dann schlossen sich seine Finger um ihr Handgelenk. Mit den stumpfen Spitzen ihrer schweren Stiefel versuchte Lucy sich am Baumstamm emporzuarbeiten und einen Ast oder irgendeinen anderen Halt zu finden. Der Schnitt in ihrer Handfläche schmerzte. Sie spürte, wie die Wunde unter dem Verband wieder aufriss. Einen entsetzlichen Augenblick lang baumelte sie nur etwas mehr alseinen Meter über dem Boden und stellte sich vor, wie sich die Zähne von einem der Hunde in ihre Ferse bohrten. Eine Woge beängstigender Laute brandete zu ihr empor: Hecheln und vielstimmiges Knurren.
    Während der Unbekannte sie nach oben zog, ruderte Lucy verzweifelt mit den Beinen. Mit einem dumpfen Geräusch stieß ihr linker Fuß gegen etwas Weiches. Ein Jaulen erklang, und unverhofft konnte sie sich abstoßen und auf den Zweig katapultieren, auf dem der Fremde saß. Sie hatte so viel Schwung, dass sie fast auf der anderen Seite wieder hinuntergefallen wäre, wenn der Griff des Unbekannten sie nicht festgehalten hätte. Lucy riss ihren freien Arm in die Höhe, klammerte sich damit an den Ast und schwang ihr Bein darüber. Sie sah nach unten. Zehn, zwölf Hunde drängten sich um den Baum, einem von ihnen lief Blut aus der zertretenen Nase. Immer mehr Hunde kamen dazu, bis sich die ganze Meute knurrend und kläffend versammelt hatte. Sie drängten einander zur Seite und kratzten mit ihren schwarzen Krallen an der Baumrinde.
    Die Welt begann sich zu drehen und zog Lucy mit sich. Sie schloss die Augen und spürte, wie ihr ihr Halt gefährlich abhandenkam. Ihr wurde übel und sie verlor das Gleichgewicht. Lucy sackte zusammen und fiel an die Brust des fremden Jungen. Ihr war entsetzlich schwindelig, und einen Augenblick lang dachte sie, sie müsse sich übergeben. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie biss sich auf die Zunge, bis die Übelkeit wieder nachließ.
    »Ich habe das Gleichgewicht verloren«, rechtfertigte sie sichmühsam, obwohl er gar nichts gesagt hatte. Ihre Stimme klang schroff. Sie spürte seine Hand, die immer noch ihre hielt, und seine warme, kräftige Brust. Lucy rutschte von ihm weg und wieder näher an den Stamm heran. Sie machte ihre Hand los und klammerte sich an den Ast. Irgendwo hoch oben zu sein, hatte sie noch nie leiden können, nicht mal auf dem Spielplatz, auf der Schaukel oder auf der Wippe. Sorgfältig vermied sie, noch mal nach unten zu sehen, aber sie konnte die Hunde hören, die umhersprangen, nacheinander schnappten und sich anknurrten. Lucy versuchte so zu tun, als befände sie sich nicht in drei Meter Höhe über dem Erdboden.
    Mit einem amüsierten Gesichtsausdruck, den sie ihm nur zu gern mit Ohrfeigen ausgetrieben hätte, sah der fremde Junge sie an. Lucy räusperte sich. Ihre Hand wanderte zu dem Messer in ihrer Tasche.
    »Was ist?«, platzte sie heraus. Sie war sich über den Schmutz, den sie im Gesicht und an den Händen hatte, auf peinliche Weise im Klaren – genauso wie über den getrockneten Schweiß, der ihr das Haar verklebte, und den Gestank, der von ihrer matschverschmierten Hose ausging. Der Junge dagegen roch sauber. Nach Seife – eine Erinnerung, die sie so heftig traf, dass es schmerzte. Seine Kleider waren abgenutzt und geflickt, aber nicht so verdreckt wie ihre. Außerdem waren sie leuchtend bunt, was nicht die klügste Wahl war, um in den gedeckten Erdfarben der Landschaft und der Dunkelheit unterzutauchen – als wenn es für ihn keine Rolle spielte, ob ihn jemand aus einer Meile Entfernung sah. Die Ärmel seines roten Sweatshirts hatte er abgetrennt, als ob ihm das feuchtkalte Wetter gar nichts ausmachte. Unter gesenkten Augenlidern sah Lucy ihn an. Er war ungefähr in ihrem Alter, hatte grüne Augen, dunkelblondes Haar und einen vollen Mund, mit dem er sie angrinste. Das Grinsen verging ihm ein bisschen, als er ihre barsche Tonlage registrierte.
    »Willst du dich nicht bei mir bedanken?«, fragte er. Ihre Wangen flammten auf.
    Monate waren vergangen, seit Lucy zum letzten Mal in der Gesellschaft von anderen Menschen gewesen war. Sie nahm Umwege in Kauf, um ihnen auszuweichen und sich vor ihnen zu verbergen. Sie fühlte sich in der Gegenwart anderer Leute äußerst unbehaglich. Ungefähr so wie früher am ersten Schultag, nach der Freiheit der Sommerferien. Lucy wich dem bohrenden Blick des Jungen aus und blickte wieder nach unten, wo die Hunde um den Baum herumschnüffelten. Ein paar von ihnen lagen auf dem Boden und leckten
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