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Entfesselte Energien (Band 1)

Entfesselte Energien (Band 1)

Titel: Entfesselte Energien (Band 1)
Autoren: Paul Collmann
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sich mit tapferem Lächeln auf den etwas verfänglichen Platz. Auch diese Nacht wird ja einmal ein Ende nehmen, sagte sie sich fast laut vor.
    Aber es war doch nicht leicht, was in den folgenden Stunden von ihr verlangt wurde. Die Versuche ihres Tischherrn, eine Unterh altung in Gang zu bringen, war qualvoll. Man musste ihm ständig auf die Sprünge helfen und bei seiner übermäßigen Größe, die selbst beim Sitzen sich nicht zu verringern schien, war sein Ohr schwer zu erreichen. Sein Verständnis vielleicht noch schwerer. Es wollte nicht klappen. Sie sah sich verzweifelt um an der Tafel, aber auch das gewährte keine Erleichterung. Auch sonst stimmte nichts. Vielleicht war die Tischordnung zu jählings geändert worden; wohin sie blickte, erkannte sie Verlegenheit und Missmut. Oder schien es ihr nur so in ihrer augenblicklichen Verfassung?
    Eine kleine Ruhepause für Tess war es, als ihre Großmutter hereingeführt wurde, eine weißhaarige, halb gelähmte Greisin von fast 80 Jahren. Tess entschuldigte sich bei ihrem Tischherrn und sprang sofort auf, um zur Flügeltüre zu eilen. Das war ihr Amt seit langen Jahren gewesen, ihre gestrenge, gefürchtete, über alles geliebte Großmutter an die Tafel zu führen. Einen tiefen Knicks machte sie vor der alten Dame – eine stets innegehaltene Sitte aus den Jugendtagen der Großmutter – und einen Kuss drückte sie auf die welke Hand. Und die Greisin, die mit den scharfen Augen eines Raubvogels die Versammlung gemustert hatte, milderte sichtlich ihre Züge, als sie ihre Blicke über die schlanke, elegante, jetzt so demütig geneigte Gestalt ihrer Enkelin wandern ließ. Ihre Hände ließen die Arme der sie führenden Neffen los und legten sich zärtlich auf die Schultern Tessis. Kaum hörbar hauchte sie einen Gruß – oder war’s ein Segenswunsch? – Dann ließ sie sich zur Tafel führen. Alle Anwesenden hatten sich inzwischen erhoben, eine fast andachtsvolle, lautlose Stille herrschte in dem Saal. Man war längst dahin übereingekommen, der alten Dame die Mühe einer Vorstellung und Begrüßung im Einzelnen zu ersparen, man wartete auf den Segenswunsch, den sie heute nur noch mit den Augen der Versammlung spendete, blieb stehen, bis die Greisin sich gesetzt hatte, und folgte dann lautlos ihrem Beispiel.
    Endlich erhob sich der Baron zu der begrüßenden Ansprache an seine Gäste. Alle atmeten auf, man konnte sich mal ruhig hingeben und die Verantwortung auf andere Schultern abwälzen. Der Baron würde es schon machen, als alter Regimentskommandeur waren ihm solche Ansprachen etwas ganz Geläufiges, noch nie war er über eine Rede aus dem Stegreif in Verlegenheit geraten. Seltsam! War auch er von der allgemeinen Verwirrung angesteckt worden? War ihm irgendetwas quer in den Sinn gekommen? Seine Worte, die er künstlich zu setzen suchte, verwirrten sich, humorvolle Anspielungen wollten nicht über die Lippen und wenn, verstand sie niemand. Bald wusste keiner mehr, wohin er seine Blicke richten sollte. Der Redner, der dies bemerkte, brach plötzlich ab, eine Katastrophe schien unvermeidlich.
    Aber jetzt war die Tochter auf dem Platz; der Vater sah sie an, nur einen Augenblick, doch diesen Augenblick benutzte sie schnell. Mühsam, mit schmerzverzerrtem Antlitz erhob sie sich, wobei sie sich auf die Schulter ihres Kavaliers stützen musste. Der Graf sprang augenblicklich hilfsbereit auf, sie ließ sich von ihm hart an dem Stuhl ihres Vaters vorbeiführen. „Lass nur. Papa, es wird gleich wieder vorübergehen!“, raunte sie ihm zu. Und etwas lauter: „Lasst euch darum in eurer Festfreude nicht stören!“ Mit schmerzlich müdem Lächeln – das sie nur umso schöner machte – ließ sie sich hinausführen. Die Mutter eilte ihr nach, alle nahmen innigstem Anteil, der Vater sprach einige beruhigende Worte, womit seine Rede ihr natürliches Ende fand. Die Situation war gerettet.
    Eine Weile schien nun freilich der Bogen sich nach der anderen Seite zu überspannen, die Festfreude kam ernstlich ins Wanken. Tess war eigentlich zu beliebt, als dass sie sich einen solchen Opfergang erlauben durfte. Die Unterhaltung wollte nicht wieder in Fluss kommen und verstummte vollends, als die Mutter wieder in der Türe erschien – ohne Tess. Viel fragende, viel enttäuschte Blicke kamen ihr entgegen und lasen ihr die Antwort schon von den Lippen ab. So ganz schlimm konnte es ja wohl nicht sein, die Mutter lächelte schon wieder ihr gutmütiges, ein wenig schalkhaftes Schwabenlächeln.
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