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Entfesselte Energien (Band 1)

Entfesselte Energien (Band 1)

Titel: Entfesselte Energien (Band 1)
Autoren: Paul Collmann
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alten Herrn, einem pensionierten General, der hier jeden Morgen in der Lesehalle seine Zeitungen las, war noch niemand anwesend. Herr Kirna ließ sich einen Grog bereiten, heiß und stark, denn er war durchgefroren und übler Laune von seinem frühen Gang, dem kein Erfolg beschieden gewesen war, und infolge der Nacht, die er nicht ganz in der gewohnten Weise verbracht hatte. Er behielt den hellen karierten Kamelhaarmantel an, während er sich tief in einen Sessel in der Nähe der Heizkörper eingrub und sich hinter einer umfangreichen Zeitung verbarg. Doch las er nicht wirklich, viel war noch zu überdenken, ehe man in dieser höchst schwierigen und verzwickten Sache einen festen Grund fand, auf dem man überhaupt erst einmal seine Pläne aufbauen konnte.
    Im Hintergrunde hörte man Schritte, leise hob er den Kopf und sah über die Zeitung hinweg. Der General entfernte sich mit etwas schwerfälligen, schleppenden Schritten, er hatte den Mantel bereits angezogen. Jetzt hatte die Türe am Ende des langen Raumes sich wieder geschlossen. Kirna ließ die Zeitung fallen und atmete auf – er war allein. Schnell sprang er auf, als wäre gleich im Augenblick etwas zu tun. Ein paar mal rannte er hastig in der Lesehalle auf und ab, wobei er sich jedoch zu überzeugen schien, dass eben irgendetwas von Belang noch nicht getan werden könnte, denn er warf sich in seinen alten Sessel und suchte den Faden seiner Überlegungen wieder zu erhaschen. In dem Maße, wie er den abgerissenen Gedanken nachging, sank sein Körper tiefer und tiefer in den Sessel zurück.
    Harry, dass du das ganz vergessen hast, sagte er plötzlich zu sich selbst und ruckte sich empor, sie wohnt doch noch immer bei der Majorin, die dir alles zuliebe tut – alles! Aber – was kann sie mir helfen? Ohne dass ihr Mann alarmiert wird! Verdammt verhakt und verdrahtet alles, wohin man auch ausbrechen will! Verdammtes zivilisiertes Europa! Wie ganz anders war das in Indien! Wenn man sich nicht gerade die Gattin eines englischen Offiziers aussuchte. Und wenn schon! – Er lachte zur Seite, als säße da jemand, dessen heimliches Erinnern man wachrufen, an dessen Mitgrinsen man sein eigenes Feuer wieder entzünden könnte. Es waren Zeiten, die mannigfache Erfolge gebracht hatten. Aber seien wir doch ehrlich, solche Zeiten packen die Energie in Watte und schleifen die Spitzen und Zacken der Intelligenz ab. Das Jetzt ist besser, pack alle deine Kräfte aus, Harry! Du wirst sie hier brauchen.
    Der bleiche, übernächtigte Mann trank seinen Grog au s, der längst kalt geworden war und sprang auf. Man konnte eben doch etwas tun: Li wollte gleich heute Morgen schreiben, wie man wieder zusammenkommen könnte, ganz unauffällig, durch einen seltsamen ‘‘Zufall’’. Der Brief könnte jetzt in meinem Kasten liegen – die Freunde kommen noch nicht – für einen Moment kann ich noch mal hinfahren. Er ging zum Fenster, um nach einer Taxe zu sehen, da ging die Türe hinter ihm, ein Hallo folgte – da waren sie!
    Der etwas korpulente, aber sehr lebhafte Hauptmann Degenhart rannte gleich durch die Halle, schon von weitem Herrn Kirna die Hand entgegenstreckend. „Schon lange da, alter Junge? Bereits auf uns gewartet? Tag!“
    Etwas gemessener, aber auch freundlich lächelnd, schritt hinter ihm Major von Liris her, schlank, beherrscht, geradeaus blickend, mit einem seltsam geringen Aufwand seiner körperlichen Funktionen. „Grüß Gott, Harry!“, raunte er diskret. „Verzeih, wenn wir verspätet kommen!“
    „ Wie ging es denn?“, fragte der dicke Hauptmann, die beiden anderen vor sich her in eine Fensterecke schiebend und zum Sitzen einladend. „Hast du etwas erreicht, Harry? Bist du einen Schritt weiter gekommen?“
    Auch der Major sah dem Bericht des beliebten und anerkannten Kameraden mit Spannung entgegen, aber er drängte nicht, er ließ sich geräuschlos in seinen Sessel gleiten, ohne den, der jetzt sprechen würde, auch nur einen Moment aus dem Auge zu verlieren.
    „Verdammt schwierige Chose!“, knurrte Kirna, mit katzenartiger Gewandtheit sich seines Mantels entledigend.
    „ Dachte ich mir’s!“, zischte der Hauptmann durch die Zähne.
    Der Major nickte nachdenklich.
    „Hast du sie gar nicht gesehen?“, fragte der Hauptmann behutsam.
    Der Gefragte lehnte sich im Sessel zurück, schwieg eine Weile und sah scharf geradeaus, als suche er die Ferne vor sich zu durchdringen, wie ein Jäger, der vor dem Dschungel steht und den Ausbruch des Tigers erwartet.
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