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Enigma

Enigma

Titel: Enigma
Autoren: Robert Harris
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eines Londoner Omnibusses und ein Spendenaufruf von der Hilfsorganisation für arme Geistliche:
    VERMISSTE POLNISCHE OFFIZIEREDEUTSCHE BEHAUPTUNGEN
    Der polnische Minister für Nationale Verteidigung, Generalleutnant Marjan Kukiel, hat eine Verlautbarung herausgegeben, betreffs etwa 8000 polnischer Offiziere, die im Frühjahr 1940 aus sowjetischen Kriegsgefangenenlagern entlassen wurden. In Anbetracht deutscher Behauptungen, daß in der Nähe von Smolensk die Leichen von vielen tausend polnischen Offizieren gefunden und daß diese von den Russen ermordet worden seien, hat sich die polnische Regierung entschlossen, das Internationale Rote Kreuz um eine Untersuchung dieser Angelegenheit zu bitten…
    »Mir gefällt vor allem diese Formulierung«, sagte Wigram.
    »Aus sowjetischen Kriegsgefangenenlagern entlassen….«
    »So kann man es vermutlich auch ausdrücken.« Jericho versuchte, ihm die Zeitung zurückzugeben, aber Wigram wehrte ab.
    »Behalten Sie sie. Ein Andenken.«
    »Danke.« Jericho faltete die Zeitung zusammen und steckte sie in die Tasche, dann schaute er stur aus dem Fenster, um eine weitere Unterhaltung zu verhindern. Er hatte Wigram und seine Lügen restlos satt. Als sie zum letzten Mal unter der geschwärzten Eisenbahnbrücke hindurchfuhren, berührte er verstohlen seine Wange und wünschte sich, er hätte Hester mitnehmen können zu diesem letzten Akt.
    Am Bahnhof bestand Wigram darauf, ihn bis in den Zug zu begleiten, obwohl Jerichos Gepäck bereits Anfang der Woche vorausgeschickt worden war und er nichts zu tragen hatte. Als Gegenleistung ließ Jericho zu, daß Wigram ihn mit der Hand stützte, als sie die Fußgängerbrücke überquerten und auf der Suche nach einem freien Platz am Zug nach Cambridge entlanggingen. Jericho achtete darauf, daß er, nicht Wigram, das Abteil auswählte.
    »Also dann, mein lieber Tom«, sagte Wigram mit gespielter Traurigkeit, »leben Sie wohl.« Wieder dieser eigentümliche Handschlag, bei dem der kleine Finger irgendwie in die Handfläche gebogen war. Letzte Dinge: Hatte Jericho seine Fahrkarte? Ja. Und er wußte, daß Kite ihn in Cambridge abholen und mit einem Taxi zum King´s College bringen würde? Ja. Und er würde daran denken, daß jeden Morgen eine Schwester vom Addenbrooke´s Hospital käme, um den Verband an seiner Schulter zu wechseln? Ja, ja, ja.
    »Leben Sie wohl, Mister Wigram.«
    Er lehnte seinen schmerzenden Rücken an die Lehne seines Sitzes, der gegen die Fahrtrichtung zeigte. Wigram schloß die Tür. In dem Abteil saßen noch drei weitere Fahrgäste: ein dicker Mann in einem schmutzigen gelbbraunen Regenmantel, eine ältere Frau in einem Silberfuchs und ein verträumt aussehendes Mädchen, das in einer Zeitschrift las. Sie sahen alle ziemlich harmlos aus, aber konnte man sicher sein? Wigram klopfte ans Fenster, und Jericho mühte sich auf die Beine, um es zu öffnen. Als er es endlich geschafft hatte, war bereits der Pfiff ertönt, und der Zug hatte sich in Bewegung gesetzt. Wigram trottete daneben her.
    »Ich melde mich, wenn Sie wieder ganz in Ordnung sind, okay? Und Sie wissen, wo Sie mich erreichen können, wenn Sie mich brauchen.«
    »Ja, das weiß ich«, sagte Jericho und schob das Fenster mit einem Knall zu. Aber Wigram hielt immer noch Schritt - lächelnd, winkend, rennend. Es war eine Herausforderung für ihn, ein grandioser Spaß. Er hielt nicht an, bis er das Ende des Bahnsteigs erreicht hatte, und das war Jerichos letzter Eindruck von Bletchley: Wigram, der sich vornüberbeugte, die Hände auf die Knie gestemmt, den Kopf schüttelte und lachte.
    Fünfunddreißig Minuten nach Besteigen des Zuges in Bletchley stieg Jericho in Bedford wieder aus, kaufte sich eine einfache Fahrkarte nach London und wartete dann im Sonnenschein am Ende des Bahnsteigs, wobei er das Kreuzworträtsel in der Times löste. Es war heiß, die Gleise flimmerten; in der Luft lag ein starker Geruch nach erhitztem Kohlenstaub und Stahl. Als er mit dem Lösen des Rätsels fertig war, stopfte er die Zeitung ungelesen in einen Papierkorb und wanderte langsam den Bahnsteig auf und ab, um wieder ein Gefühl für seine Beine zu bekommen. Um ihn herum versammelten sich zahlreiche weitere Fahrgäste, und er musterte automatisch jedes Gesicht, obwohl die Logik ihm sagte, daß es unwahrscheinlich war, daß er beschattet wurde: Wenn Wigram befürchtet hätte, daß er sich heimlich davonmachen könnte, hätte er bestimmt veranlaßt, daß Leveret ihn die ganze Strekke bis nach
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