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Englische Liebschaften (Nancy Mitford - Meisterwerke neu aufgelegt) (German Edition)

Englische Liebschaften (Nancy Mitford - Meisterwerke neu aufgelegt) (German Edition)

Titel: Englische Liebschaften (Nancy Mitford - Meisterwerke neu aufgelegt) (German Edition)
Autoren: Nancy Mitford
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Tante Emily war die Schwester von Tante Sadie, und sie hat mich großgezogen, denn meine Mutter, ihre jüngste Schwester, hatte gemeint, sie sei zu schön und zu lebenslustig, um sich schon im Alter von neunzehn Jahren mit einem Kind zu belasten. Sie verließ meinen Vater, als ich einen Monat alt war, und lief danach so oft und mit so vielen verschiedenen Leuten davon, dass die Familie und die Freunde sie nur noch die »Hopse« nannten; andererseits hatte auch die zweite Frau meines Vaters verständlicherweise keine große Lust, sich um mich zu kümmern, ebenso wenig wie später die dritte, die vierte und die fünfte. Gelegentlich erschien einer dieser stürmischen Elternteile wie eine Rakete an meinem Horizont und tauchte ihn in eine unnatürliche Glut. Sie verbreiteten großen Glanz, und ich sehnte mich danach, in ihrem Feuerschweif mit fortgerissen zu werden, obgleich ich tief im Inneren wusste, dass ich froh sein konnte, Tante Emily zu haben. Als ich älter wurde, verloren sie nach und nach jeden Reiz für mich; die ausgeglühten grauen Raketengehäuse verrotteten, wo sie zufällig niedergegangen waren, meine Mutter bei einem Major in Südfrankreich und mein Vater, der seine Güter verkauft hatte, um seine Schulden zu bezahlen, bei einer alten rumänischen Gräfin auf den Bahamas. Noch bevor ich erwachsen war, hatte der Glanz, der sie früher umgab, erheblich nachgelassen, und schließlich war nichts mehr da, woran sich kindliche Erinnerungen hätten heften können; in nichts unterschieden sie sich von anderen Leuten mittleren Alters. Tante Emily verbreitete nie Glanz um sich, aber sie war immer meine Mutter, und ich liebte sie.
    Zu der Zeit aber, über die ich hier schreibe, war ich in einem Alter, in dem sich auch das fantasieloseste Kind für ein untergeschobenes oder vertauschtes Kind hält, für eine Prinzessin mit indianischem Blut in den Adern, für Johanna von Orléans oder die künftige Kaiserin von Russland. Ich sehnte mich nach meinen Eltern, machte ein idiotisches Gesicht, das eine Mischung aus Wehmut und Stolz zum Ausdruck bringen sollte, wenn im Gespräch ihre Namen fielen, und malte mir aus, wie sie lebten, tief in romantische, tödliche Sünde verstrickt.
    Linda und ich, wir beschäftigten uns sehr intensiv mit der Sünde, und unser großer Held war Oscar Wilde.
    »Aber was hat er denn nun wirklich getan?«
    »Einmal habe ich Pa danach gefragt, aber er hat mich nur angebrüllt – lieber Himmel, es war furchtbar! Wenn du den Namen von diesem Gulli noch einmal in diesem Hause erwähnst‹, schrie er, ›dann gibt es Dresche, verstanden, du verflixtes Gör?‹ Also fragte ich Tante Sadie, aber sie sah bloß schrecklich geistesabwesend vor sich hin und sagte: ›Ach, Schatz, ich habe es nie ganz verstanden, aber was es auch war, es war schlimmer als Mord, furchtbar schlimm. Und bitte, Liebes, sprich nicht bei den Mahlzeiten über ihn, ja?‹«
    »Wir müssen es herausbekommen.«
    »Bob sagt, er schafft es, wenn er nach Eton geht.«
    »Oh, toll! Glaubst du, er war schlimmer als Mammi und Daddy?«
    »Das geht doch gar nicht! Ach, du hast ein Glück mit deinen verruchten Eltern!«

    An diesem Weihnachtsfest, als ich vierzehn war, taumelte ich in die Halle von Alconleigh. Das Licht blendete mich nach den sechs Meilen im Wagen von der Bahnstation Merlinford bis hierher. Es war jedes Jahr das Gleiche, immer kam ich mit dem gleichen Zug, traf zur Teezeit ein, und immer fand ich Tante Sadie und die Kinder um den Tisch unter dem Schanzspaten versammelt, genau wie auf der Fotografie. Es waren immer derselbe Tisch und dasselbe Teegeschirr; das Porzellan mit den großen Rosen, der Teekessel und der Silberteller für das Gebäck, die von kleinen Lichtern warm gehalten wurden – die Menschen wurden natürlich unmerklich älter, aus Babys wurden Kinder, die Kinder wuchsen heran, und es war in Gestalt der inzwischen zwei Jahre alten Victoria ein Zuwachs zu verzeichnen. Mit einem Schokoladenplätzchen in der geschlossenen Faust watschelte sie herum, das Gesicht über und über mit Schokolade bekleckert, ein schrecklicher Anblick, aber unter der klebrigen Maske strahlte das unverkennbare Blau zweier unverwandt dreinblickender Radlett-Augen.
    Es gab ein gewaltiges Stühlerücken, als ich eintrat, und ein Rudel Radletts fiel so unbändig und fast so unerbittlich über mich her, wie sich ein Rudel Hunde über einen Fuchs hermacht. Alle außer Linda. Sie freute sich am meisten, mich zu sehen, aber sie wollte es auf
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