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Engelslied

Engelslied

Titel: Engelslied
Autoren: Nalini Singh
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hingelegt worden. Als Elena sah, wie sich silberblaue Flügel in die Luft schwangen, überkam sie eine immense Erleichterung – gemischt mit Entsetzen beim Anblick der vielen geflügelten Körper, die inzwischen auf dem dunklen Wasser des Hudson trieben.
    Im Laufen traf sie ein weiterer Vogel und ritzte ihr mit dem Schnabel die rechte Wange auf, aber sie schüttelte ihn ab und lief einfach weiter. Bei der zweiten Rückkehr ins Haus hörte sie ihren ersten geborgenen Engel würgen: Er lag auf der Seite, der linke Flügel und beide Beine übel zugerichtet, aber er lebte.
    Montgomery und sie überließen auch den eben gebrachten Verwundeten Sivyas Fürsorge, um gleich wieder nach draußen zu laufen. Es kam ihr vor, als würden sie eine Ewigkeit im Chaos des schrecklichen Bombardements Verletzte bergen, aber später sollte Elena herausfinden, dass diese Hölle, die unter dem Begriff Sturz der Engel bekannt wurde, gerade einmal fünf Minuten gedauert hatte. Danach fiel kein Vogel mehr vom Himmel. Und auch kein Engel.
    Vier Stunden später lagen endlich genaue Zahlen vor. Achthundertsiebenundachtzig Engel waren während dieser schrecklichen Episode, die niemand je vergessen würde, über der Stadt heruntergekommen. Achthundertzwei der Gestürzten hatten zu der im Turm stationierten zweitausend Mann starken Verteidigertruppe gehört, bei fünfundachtzig handelte es sich um Engel, die nicht bei den Streitkräften dienten und sich lediglich als Besucher in der Stadt aufgehalten hatten. Zwei waren Kuriere gewesen, die das Pech gehabt hatten, hier einzutreffen, als gerade alles ganz furchtbar schieflief.
    »Alle Verletzten wurden gefunden.« Aodhan trat zu Elena und Raphael auf den geländerlosen Balkon vor Raphaels Turmbüro, wo die beiden den Himmel betrachtet hatten, an dem sich gerade wie mit einer feurigen Palette gemalt ein fast schon herzzerreißend schöner Sonnenuntergang abspielte.
    Raphael, dessen Flügel und Kleidung mit Blut bespritzt waren, sah den vor ihm stehenden Engel fragend an. Aodhan schien aus zersplittertem Licht geschaffen, seine Haare wie mit Diamantstaub überzogen, die Flügel so hell, dass ihr Anblick den Augen von Sterblichen wehtat, wenn Sonnenlicht darauf fiel. Die Augen bestanden, von den Pupillen nach außen, aus kristallklaren, blauen und grünen Splittern. »Bist du sicher?«
    »Ja. Wir haben eine Liste mit den Namen sämtlicher im Turm stationierter Engel und auch von allen, die sich sonst irgendwie in der Gegend aufhalten. Ich habe die Namen auf dieser Liste mit denen der gestürzten Engel abgeglichen.« Aodhan faltete seine Flügel anders, und das Licht der untergehenden Sonne brach sich im Facettenreichtum seiner Federn. »Illium hat Berichte über alle Besucher, und auch das Informantennetzwerk der Gilde meldet keine nicht aufgefundenen Engel.«
    »Wie viele haben wir verloren?« Elena hatte die Hände zu Fäusten geballt, sie stellte diese Frage nur widerwillig. Sicher, in den Augen der Menschen galten Engel als unsterblich, aber es war doch möglich, sie zu töten. Je jünger sie waren, desto leichter starben sie. Enthauptung, oder ein mit schweren inneren Verletzungen einhergehendes, zerstörtes Herz oder gebrochenes Rückgrat … Raphael würde solchen Verletzungen nicht erliegen, aber wenn sie einem gerade erst im Erwachsenwerden begriffenen Engel zugefügt wurden, gab es kein Genesen, dann war der Ausgang tödlich.
    Raphaels ausdrucksloses Gesicht ließ keine Gefühle erkennen, als er auf Aodhans Antwort wartete.
    »Fünf. Bei allen war sekundäres Trauma die Todesursache, nicht der Vorfall selbst, der den Sturz auslöste.«
    »Berichte«, befahl Raphael.
    Aodhans Stimme wurde leiser, als er die vernichtenden Fakten aufzählte. »Einer wurde von einer Turmspitze aufgespießt, wobei ihm fast gleichzeitig Herz und Rückgrat zerstört wurden.«
    »Wer?«
    »Stavre. Gerade einmal einhundertfünfzig Jahre alt, es war sein erster Einsatz.«
    So jung! Wie unfair das war! Elena biss die Zähne zusammen. Sie musste weiter zuhören, auch wenn sie sich dazu zwingen musste, also hörte sie hin, während Aodhan seinen Bericht ablieferte, auch er nach außen hin ohne jede Gefühlsregung. Und doch schnitt jedes seiner Worte schärfer als eine Rasierklinge.
    Er nannte zuerst die Namen der Gefallen, um dann fortzufahren: »Zwei stürzten direkt vor fahrende Wagen in den Verkehr. Die Fahrer konnten nicht schnell genug bremsen. Beide wurden enthauptet, hinzu kamen noch schwere Schädigungen des
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