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Engelsfuerst

Engelsfuerst

Titel: Engelsfuerst
Autoren: Joerg Kastner
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versöhnen könnte.«
»Wieso glauben Sie das?«
»Ihr Blick spricht Bände, Enrico.«
Enrico hatte sich in den vier Wochen, die er mittlerweile hier war, niemandem im Kloster offenbart,
auch nicht Tommasio oder Francesco, und keiner hatte so etwas auch nur ansatzweise von ihm verlangt.
Alle, die hier in der Abgeschiedenheit der Berge lebten, hatten ein persönliches Schicksal, das sie zu Gott
oder doch zumindest auf die Suche nach ihm gebracht
hatte. Das hatte Enrico Andeutungen entnommen, die
Francesco einmal gemacht hatte. Jeder versuchte, auf
seine Weise seinen Frieden mit Gott zu finden. Aber
vielleicht hatte der Abt recht, und nicht alle Menschen
waren in der Lage, diesen Weg ohne Hilfe zu gehen.
Zumal Enrico kein Mönch war, kein Kleriker, sondern ein Mann, der sich bis vor zwei Jahren nur für
die weltlichen Dinge interessiert hatte.
»Wenn Sie mit mir reden möchten, können Sie das
jederzeit tun«, fuhr Tommasio fort. »Ich kann Ihnen
nicht versprechen, daß ich den richtigen Rat für Sie
weiß, aber manchmal hilft es schon, die Last, die auf
einem liegt, zu teilen.«
Enrico sah den Abt lange an. Schwer zu sagen, wie
alt er war, vielleicht fünfzig, vielleicht auch sechzig. Er
konnte nicht sein ganzes Leben hinter Klostermauern
verbracht haben, das gebräunte, wettergegerbte Gesicht zeugte von etwas anderem. Ein Mann, der viel
von der Welt gesehen und so manche Erfahrung mit
den Menschen gemacht hat, bevor er sich entschloß,
die Mönchskutte überzustreifen, dachte Enrico; vielleicht der richtige Mann, um ihm weiterzuhelfen.
»Was wissen Sie über Träume, Vater Tommasio?
Ich meine Träume, die immer wiederkehren und einem manchmal wirklicher vorkommen als die Wirklichkeit.«
»Das ist ein großes Thema«, murmelte der Abt und
lehnte sich zurück, so daß sein Stuhl gefährlich knarrte.
»Haben Sie einen bestimmten Traum, der Sie plagt?«
»Ich hatte schon früher seltsame Träume, aber seit
ich hier in den Bergen bin, ist es ein neuer, der mich
heimsucht, wieder und wieder. Die Abstände werden
kürzer, und der Traum wird eindringlicher, als würde
er mich immer mehr in seine Welt hineinziehen.«
Tommasio bat ihn, den Traum zu erzählen, und
Enrico berichtete in allen Einzelheiten von der antiken Stadt, von der Bedrohung durch einen Krieg, die
über ihr schwebte, von der wütenden Menge und der
hellhaarigen Frau, die in Gefahr geriet und um die er
solche Angst ausstand.
»Dabei weiß ich nicht einmal, wer diese Frau ist«,
schloß er. »Im Traum rufe ich laut ihren Namen, aber
wenn ich aufwache, kann ich mich nicht erinnern. Er
scheint mir auf der Zunge zu liegen, und doch will er
mir nicht einfallen. Ich habe schon etliche Stunden gegrübelt, ohne Erfolg.«
Mit größter Aufmerksamkeit hatte der Abt ihm zugehört, ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. Zu
Enricos Verwunderung erhob er sich nun unvermittelt
und bat Enrico, ihm zu folgen. Sie verließen das
Hauptgebäude des Konvents und traten nach draußen, in die frische Morgenluft. Ein scharfer Wind
wehte um die verwitterten Klostermauern, und bei besonders heftigen Böen erklang ein leises Heulen wie
ein Klagelied. Enrico atmete tief durch, und das tat
ihm gut.
Das Kloster stand auf dem höchsten Berg weit und
breit; Enrico war von der grandiosen Aussicht stets
aufs neue beeindruckt. In der Ferne zeichneten sich,
teilweise noch vom Morgendunst umhüllt, einige
kleine Orte ab, aber in der näheren Umgebung von
San Gervasio gab es nur Wälder und zerklüftete Hügel, die sich trotzig aus dem Grün emporreckten, als
strebten sie danach, die Höhe des Klosterbergs zu erreichen.
Tommasio führte ihn zu dem großen Tor, das die
Abtei von der schmalen, gewundenen Bergstraße abgrenzte. Das Tor, nur angelehnt, protestierte mit einem langgezogenen Quietschen, als der Abt es aufzog.
Enrico wunderte sich, denn außerhalb des Klosters
gab es seines Wissens kilometerweit nichts als Felsen
und Bäume. Dennoch folgte er dem Abt, der die Straße ein kurzes Stück hinunterging und dann am linken
Rand stehenblieb, als wolle er sich in den Abgrund
stürzen.
»Sind Sie schwindelfrei, Enrico?«
»Ich glaube schon«, lautete Enricos irritierte Antwort.
»Gut, dann folgen Sie mir, aber vorsichtig, bitte!«
Jetzt erst bemerkte Enrico die verwitterten Stufen,
die irgend jemand vor langer, langer Zeit in den Fels
gehauen hatte, vermutlich schon vor Jahrhunderten.
Regen und Wind hatten an der schmalen Treppe genagt, ihre Kanten
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