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Ende einer Welt

Titel: Ende einer Welt
Autoren: Claude Anet
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Stamm floh,
gepeitscht vom Nordwind, der ihm keine Rast gönnte. Leichen
bezeichneten die Spur seines Weges. Die Tiere flüchteten mit
den Menschen. Eine Herde der schwankenden, friedlichen Mammute trabte,
so schnell ihre durch Fasten geschwächten Beine den
unförmigen Körper zu tragen vermochten, den in einem
günstigeren Klima erhofften Weideplätzen zu. In
dunklen Nächten vernahm man das Brüllen jagender
Löwen. Erschreckte Renntiere sah man von weitem fliehen.
Gruppen von Bisons rasten angsterfüllt vorbei. Es waren die
einzig glücklichen Tage, wenn man ihre untersetzten Gestalten
in der Ferne erblickte. Die Jäger nahmen eifrig ihre
Verfolgung auf. Sie kehrten bald, gebeugt unter der Last der erlegten
Tiere, zurück. Ruhelos zogen die Leute immer weiter gegen
Süden. Noch immer hatten sie keine Möglichkeit
gefunden, sich niederzulassen. Kaum hatten sie ein Jahr in einer
milderen Gegend geweilt, so jagte sie der unerbittliche Nordwind
weiter. Ein trüber Himmel, auf dem schweres Gewölk
sich ballte, dehnte sich, soweit das Auge blicken konnte. Schon im
Sommer schlugen eisige Regengüsse auf die Erde; mit dem Beginn
des Herbstes hielt der Schnee seinen Einzug. Die Tiere, die sich von
Pflanzen nährten, starben zu Tausenden, wenn der Winter kam,
der sechs Monate dauerte.
    Endlich war der gelichtete Stamm in dieses glückliche
Tal gelangt. Was war von ihm geblieben? Vier Söhne und vier
Töchter waren es: der große Ahne hatte trotz der
Kräfte und des Mutes eines Bären nur die Seinen
retten können. Und war er nicht nach seinem Tode durch die
Kraft seines Willens selbst zum Bären geworden, zum edelsten
aller Tiere? In dieser Gestalt wachte er weiter über alle, die
von ihm abstammten und einander als Brüder von seinem Blut
erkannten.
    Niemals gab es ein vollkommeneres und tiefer empfundenes
Gefühl einer Gemeinsamkeit, ohne daß es
nötig gewesen wäre, es durch Vorschriften zu festigen
und durch Verbote zu schützen. Jener eine, dessen Namen man
nicht nannte, weil die Ehrfurcht vor ihm zu groß war, und weil
man fürchtete, ihn durch schlecht gewählte Worte zu
verstimmen, war niemals ganz entschwunden. – Gibt es denn
jemals ein vollkommenes Ende, und ist nicht der wesentlichste Teil von
uns zur Unsterblichkeit bestimmt? So fuhr auch der Stammvater fort,
seine geliebten Kinder zu beschirmen. Einige Bevorzugte von ihnen
vermochten ihn sogar manchmal zu erblicken, denn er offenbarte sich
jenen, die dazu befähigt waren, das zu sehen, was anderen
verborgen bleibt, und Worte zu hören, die gewöhnliche
Ohren zu vernehmen unfähig sind.
    Seltsam zurückhaltend waren die mündlichen
Überlieferungen, soweit sie das Leben und das Verschwinden des
Ahnherrn in diesem Lande betrafen, in dem sein Geschick, das durch so
lange Zeit von feindlichen Mächten bedroht worden war, endlich
Ruhe gefunden hatte. Und es war verständlich, daß
dies Wenige, das man berichten konnte, nicht vor den Ohren der
geschwätzigen und unbedachten Frauen erzählt wurde.
Nur den Männern wurden diese Geheimnisse mitgeteilt, und auch
ihnen nur stufenweise und unter feierlichen Umständen, wie die
Gebräuche sie für jene bestimmten, welche, zu
Männern herangereift, die Proben der Einweihung in jener
selben Höhle bestanden, in der der Stammvater nach dem
Verlassen der menschlichen Gemeinschaft weitergelebt hatte. Der Felsen
selbst zeigte den Abdruck seiner Tatzen, fast zehn Fuß hoch
über dem Boden, den er, der Riese, dort hinterlassen hatte. Es
gab keinen geheiligteren Ort im ganzen Stamm, und jeder, der ihn
leichtfertigen Sinnes aufgesucht hätte, wäre eines
plötzlichen Todes gestorben. Auf zweihundert Schritte im
Umkreis durfte der Boden nicht betreten werden. Und wenn man von ihm
sprach, beschränkte man sich darauf, mit Absicht unbestimmte
Worte zu flüstern, in denen »ein so schweres
Verbrechen« angedeutet wurde, »dessen
Enthüllung kein menschliches Ohr zu vernehmen
vermöchte« und, seltsamer Widerspruch, »ein
Verbrechen, notwendig dennoch, mit Folgen, die niemals
aufgehört haben, wohltätig dem ganzen Stamme zu
dienen«. Wußte man mehr darüber? Niemand
hätte gewagt, außerhalb der heiligen Grotte diese
Dinge zu besprechen, denn Geheimnisse, durch deren Besitz eine
menschliche Gesellschaft lebt und gedeiht, dürfen nicht in der
Öffentlichkeit enthüllt werden.
    Und daß die Gesellschaft, die der Ahne
begründet hatte, von Bestand gewesen war,
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