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Empört Euch!

Titel: Empört Euch!
Autoren: Stéphane Hessel
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Seminar des bedeutenden französischen Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty. Seine Vorlesungen handelten von der konkreten Erfahrung des Körpers und seiner Verbindung mit den Sinnen, vom großen Singular gegenüber dem Plural der Sinne. Doch mein natürlicher Optimismus, der mich alles Wünschenswerte auch für möglich halten lässt, führte mich mehr zu Hegel. Die Philosophie Hegels gibt der langen Menschheitsgeschichte einen Sinn: die Freiheit des Menschen schreitet stufenweise voran. Geschichte ist eine Abfolge von Erschütterungen – und damit Herausforderungen. Die Geschichte der Gesellschaften schreitet voran, bis am Ende der Mensch seine vollständige Freiheit erlangt hat und damit der demokratische Staat in seiner idealen Form entstanden ist.
    Eine andere Auffassung von Geschichte sieht als treibende Kraft die Freiheit, die Konkurrenz, das Streben nach »immer noch mehr« – Fortschritt als Sturm mit der Kraft der Zerstörung. So sah es ein Freund meines Vaters, der mit ihm zusammen A la recherche du temps perdu ( Auf der Suche nach der verlorenen Zeit ) von Marcel Proust übersetzt hat: der deutsche Philosoph Walter Benjamin. Er ordnete einem Aquarell des Schweizer Malers Paul Klee, Angelus Novus , eine pessimistische Botschaft zu. Jenes Bild zeigt einen Engel mit gespreizten Flügeln, als wolle er einem Sturm Einhalt gebieten, den Benjamin mit dem Fortschritt identifiziert. Benjamin setzte im September 1940 seinem Leben ein Ende, um den Nazischergen nicht in die Hände zu fallen. Für ihn ist der Sinn der Geschichte eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft.
    Das Schlimmste ist die Gleichgültigkeit
    Die Gründe, sich zu empören, sind heutzutage oft nicht so klar auszumachen – die Welt ist zu komplex geworden. Wer befiehlt, wer entscheidet? Es ist nicht immer leicht, zwischen all den Einflüssen zu unterscheiden, denen wir ausgesetzt sind. Wir haben es nicht mehr nur mit einer kleinen Oberschicht zu tun, deren Tun und Treiben wir ohne weiteres verstehen. Die Welt ist groß, wir spüren die Interdependenzen, leben in Kreuz- und Querverbindungen wie noch nie. Um wahrzunehmen, dass es in dieser Welt auch unerträglich zugeht, muss man genau hinsehen, muss man suchen. Ich sage den Jungen: Wenn ihr sucht, werdet ihr finden. »Ohne mich« ist das Schlimmste, was man sich und der Welt antun kann. Den »Ohne mich«-Typen ist eines der absolut konstitutiven Merkmale des Menschen abhanden gekommen: die Fähigkeit zur Empörung und damit zum Engagement.
    Zwei große neue Menschheitsaufgaben sind für jedermann erkennbar:
    1. Die weit geöffnete und noch immer weiter sich öffnende Schere zwischen ganz arm und ganz reich. Das ist eine Spezialität des 20. und 21. Jahrhunderts. Die Ärmsten der Welt verdienen heute kaum zwei Dollar am Tag. Wir dürfen nicht zulassen, dass diese Kluft sich weiter vertieft. Allein schon dies heißt, sich zu engagieren.
    2. Die Menschenrechte und der Zustand unseres Planeten. Ich hatte nach der Befreiung Frankreichs die Chance, an der Formulierung der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« mitzuwirken, die von der UNO am 10. Dezember 1948 im Palais de Chaillot in Paris verabschiedet wurde. Diese Mitwirkung verdankte ich meiner Stellung als Kabinettschef von Henri Laugier, Beigeordneter UNO -Generalsekretär und Sekretär der Menschenrechtskommission. Beteiligt an der Ausarbeitung des Textes waren auch René Cassin, der 1941 der französischen Exilregierung in London angehört hatte und 1968 den Friedensnobelpreis erhielt, und Pierre Mendès France, dem beim Wirtschafts- und Sozialrat die von uns ausgearbeiteten Texte vorgelegt wurden, bevor sie die mit sozialen, humanitären und kulturellen Fragen befasste Dritte Kommission der Generalversammlung prüfte. In dieser Kommission waren die damals 54 UNO -Mitgliedstaaten vertreten, und ich führte ihr Sekretariat. Dass am Ende die Menschenrechte als »universell« statt, wie von unseren angelsächsischen Freunden vorgeschlagen, als »international« qualifiziert wurden, ist René Cassins Verdienst.
    Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging es ja darum, die Menschheit dauerhaft vom Gespenst des Totalitarismus zu befreien. Dazu musste erreicht werden, dass die UNO -Mitgliedstaaten sich zur Achtung dieser universellen Rechte verpflichteten – ein Weg, um das Argument
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