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Empört Euch!

Titel: Empört Euch!
Autoren: Stéphane Hessel
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so viel größer ist als zur Zeit der Befreiung, als Europa in Trümmern lag? Doch nur deshalb, weil die Macht des Geldes – die so sehr von der Résistance bekämpft wurde – niemals so groß, so anmaßend, so egoistisch war wie heute, mit Lobbyisten bis in die höchsten Ränge des Staates. In vielen Schaltstellen der wieder privatisierten Geldinstitute sitzen Bonibanker und Gewinnmaximierer, die sich keinen Deut ums Gemeinwohl scheren. Noch nie war der Abstand zwischen den Ärmsten und den Reichsten so groß. Noch nie war der Tanz um das goldene Kalb – Geld, Konkurrenz – so entfesselt.
    Das Grundmotiv der Résistance war die Empörung. Wir, die Veteranen der Widerstandsbewegungen und der Kampfgruppen des Freien Frankreich , rufen die Jungen auf, das geistige und moralische Erbe der Résistance, ihre Ideale mit neuem Leben zu erfüllen und weiterzugeben. Mischt euch ein, empört euch! Die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intellektuellen, die ganze Gesellschaft dürfen sich nicht kleinmachen und kleinkriegen lassen von der internationalen Diktatur der Finanzmärkte, die es so weit gebracht hat, Frieden und Demokratie zu gefährden.
    Ich wünsche allen, jedem Einzelnen von euch einen Grund zur Empörung. Das ist kostbar. Wenn man sich über etwas empört, wie mich der Naziwahn empört hat, wird man aktiv, stark und engagiert. Man verbindet sich mit dem Strom der Geschichte, und der große Strom der Geschichte nimmt seinen Lauf dank dem Engagement der Vielen – zu mehr Gerechtigkeit und Freiheit, wenn auch nicht zur schrankenlosen Freiheit des Fuchses im Hühnerstall. Die in der »Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte« (zutreffender: »Universelle Erklärung der Menschenrechte«) von 1948 niedergelegten Rechte sind universell. Wann immer sie jemandem vorenthalten werden, und ihr merkt es: Nehmt Anteil, helft ihm, in den Schutz dieser Rechte zu gelangen.
    Zwei Auffassungen von Geschichte
    Wie konnte der Faschismus so mächtig werden? Wie konnte es geschehen, dass er sich so festsetzen konnte, und mit ihm dann auch die Kollaborationsregierung von Vichy? Eine Erklärung scheint mir zu sein, dass die Besitzenden in ihrem Egoismus schreckliche Angst vor der bolschewistischen Revolution hatten. Sie ließen sich von ihren Ängsten leiten. Wenn aber – heute wie ehedem – eine aktive Minderheit sich erhebt, wird der Sauerteig seine Wirkung tun. Gewiss stehen die Jungen heute in einer anderen Wirklichkeit als ich sehr alter Mann mit dem Geburtsjahr 1917. Ich bitte oft Lehrer an höheren Lehranstalten, mir ein Gespräch mit ihren Schülern zu ermöglichen, und dann sage ich denen: Für euch liegen die Anlässe, euch zu engagieren, nicht mehr so offen zutage. Für uns hieß Widerstand, die deutsche Besetzung, die Niederlage nicht hinzunehmen. Das war eine relativ klare Sache. Ebenso klar war für uns, dass Frankreich seine Kolonien freigeben musste. Dann der Algerienkrieg: Natürlich musste Algerien unabhängig werden. Was Stalin betrifft, nun, so haben wir alle zwar den ersten großen Sieg der Roten Armee in Stalingrad Anfang 1943 bejubelt. Aber schon lange vorher, 1935, als wir von den großen stalinistischen Säuberungen und Schauprozessen erfuhren, konnten wir uns, trotz unserer Offenheit für den Kommunismus als Gegengewicht zum amerikanischen Kapitalismus, nicht der Einsicht entziehen, dass diese unerträgliche Form des Totalitarismus unannehmbar war. Mein ganzes langes Leben lang haben sich mir immer wieder neue Gründe zur Empörung geboten.
    Es war gar nicht so sehr mein Gefühl, das mich bewegte, sondern mehr die Entschlossenheit zum Engagement. Als Student der Ecole Normale Supérieure ( ENS ) war ich sehr von Sartre beeindruckt, der diese Hochschule Jahre vor mir besucht hatte. Der Ekel (La Nausée) , Die Mauer (Le Mur) , später dann auch Das Sein und das Nichts (L’Etre et le néant) haben mein philosophisches Weltbild entscheidend geprägt. Sartre lehrte uns, dass wir selbst, allein und absolut, für die Welt verantwortlich sind – eine fast schon anarchistische Botschaft. Verantwortung des Einzelnen ohne Rückhalt, ohne Gott. Im Gegenteil: Engagement allein aus der Verantwortung des Einzelnen.
    Als ich mich 1939 in Paris in die ENS einschrieb, war ich ein leidenschaftlicher Anhänger der Philosophie Hegels, und ich saß im
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