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Emmas Story

Emmas Story

Titel: Emmas Story
Autoren: Miriam Muentefering
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doch schon so lange nicht mehr an sie gedacht.
    »Ja, ich …« Lu deutet hinter sich zur Wohnungstür und lacht.
    Es ist das gleiche Lachen wie früher, als wir gemeinsam auf den Schaukeln des nahen Spielplatzes um die Wette flogen. Ein breites, sonniges Lachen.
    »Echt? Wir leben in der gleichen Stadt, ohne es zu wissen? Das ist ja verrückt!«
    Wir glotzen uns an.
    Sie trägt eine dunkelgrüne, ausgeleierte Cordhose, die so aussieht, als hätte sie zigmal ihre mit-was-auch-immer-verschmierten Hände an den Oberschenkeln abgewischt. Dazu ein formloses, verblasstes T-Shirt und ausgelatschte Turnschuhe.
    Nicht nur für eine Wohnungsbesichtigung ist das ein denkbar ungeeigneter Aufzug. Aber war das nicht schon immer so? War sie nicht schon immer auf eine Weise lässig gekleidet, die ins Schmuddelige übergeht? Hunderte von Bildern brechen von irgendwo durch vehement verschlossene Türen in mir, überschwemmen das Treppenhaus mit Dreizehn-, Vierzehn-, Sechzehnjährigen im Achtziger-Jahre-Look. Mit diesen Bildern strömt greifbare Atmosphäre wie ein aufwirbelnder Nebel durch mich hindurch. Gerüche. Musik. Klamme Gefühle. Eifersucht und Neid. Ich muss fast nach Luft schnappen, so sehr bricht über mich herein, wie es war. Damals.
    Lu starrt mich ebenso an wie ich sie. Fängt sich als Erste wieder. »Und du? Du wohnst doch nicht etwa …?« Sie deutet hinauf.
    »Nein, nein, wir haben nur … Armin hat nur … Oh, das hier ist Armin, ein guter Freund von mir. Er hat sich ein WG -Zimmer angesehen.« Ich deute nach oben.
    »Bei Daniel und Gregor? Cool! Die sind klasse. Das Zimmer auch. Aber vor allem die beiden.«
    »Armin, das ist Lu. Erinnerst du dich? Ich hab dir mal von ihr erzählt. Wir haben früher in den zwei Hälften eines Doppelhauses gewohnt …«
    Armins Augen leuchten auf.
    Sicher kennt er meine Erzählungen von Lu. Dem rotzfrechen und selbstbewussten Außenseiter-Balg von nebenan, das ich auf den Tod nicht ausstehen konnte, mit dem ich es hasste zu spielen, das ich immer besiegen wollte, dem ich irgendwie immer eine Nasenlänge voraus war, dem das jedoch nichts ausmachte, sondern das einfach so fröhlich war, dass alles Konkurrenzgehabe, das ich schon mit der Muttermilch aufgesogen hatte, an ihr abperlte wie Wasser von einem Lotusblatt.
    »Du hast ja …«, Lu deutet auf mich, meinen Kopf und macht eine Geste mit der Hand, »wahnsinnig lange Haare bekommen.«
    Ich greife nach der Spange an meinem Hinterkopf, mit der ich vorhin meine langen Locken möglichst lässig zusammengefasst hatte. »Und du … immer noch der gleiche Bubikopf wie früher, witzig!«
    Sie lacht wieder. Armin lacht mit. Ich werfe ihm einen verblüfften Blick zu. Er ist kein Typ, der bei jedem gleich mitlacht. Aber jetzt kleben seine Augen an Lu, und beim Anblick der olivfarbenen Haut und des breiten Mundes zeigt er seine weißen Zähne.
    Lu winkt ab. »Ich bin durch alle Höhen und Tiefen … ach, ich meine Längen und Kürzen. Aber letzte Woche habe ich mich die Haare wieder so schneiden lassen wie damals. Verrückt, dass wir uns ausgerechnet jetzt über den Weg laufen! Vielleicht liegt es an der Frisur?« Armin und sie lachen laut.
    Ich lächele nur.
    Höhen und Tiefen. Längen und Kürzen. Habe ich mich die Haare schneiden lassen. Wie niedlich damals meine Eltern und alle anderen ihre kleinen sprachlichen Ausrutscher fanden. Ich dagegen hatte immer gefunden, dass sie es einfach mal lernen sollte. Schließlich war sie schon mit zehn Jahren aus Brasilien adoptiert worden.
    Und mit zwölf, als ihre Adoptiveltern und sie in die Doppelhaushälfte neben unserer zogen, war ich bereits so eloquent, dass ich meine Deutschlehrerin mühelos an die Wand reden konnte. Lu aber hatte noch immer mit Formulierungen Schwierigkeiten, die doch jedes Baby beherrschte, selbst wenn es zuerst in Russland, dann in Schweden und am Ende in Kanada gelebt hatte. Ihre Herkunft war für mich noch nie eine ausreichende Begründung für sprachliche Fettnäpfchen gewesen.
    »Aber … Emma, sag mal … was machst du denn jetzt so? Du wolltest doch immer Anwältin für Menschenrechte oder so was werden. Hat das geklappt? Bist du verheiratet? Hast du Kinder? Bestimmt, oder?«
    Innerlich pralle ich zurück.
    »Hoppla!«, lächele ich etwas hölzern. »Das waren jetzt zu viele Fragen auf einmal!«
    Armin kichert linkisch. Ich möchte ihm gern auf seine Vorher-Barbra-Streisand-aber-danach-mit-Sicherheit-Klitschko-Nase boxen.
    Lu lacht wieder aufgedreht. »Es ist aber auch so
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