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Emil oder Ueber die Erziehung

Emil oder Ueber die Erziehung

Titel: Emil oder Ueber die Erziehung
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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will er so, wie es die Natur gebildet hat, nicht einmal den Menschen; man muß ihn wie ein Schulpferd für ihn abrichten; man muß ihn wie einen Baum seines Gartens nach der Mode des Tages biegen.
    Sonst würde aber Alles noch schlechter gehen, und unser Geschlecht ist ein Feind alles halben Wesens. In dem Zustande, in welchem sich die Dinge nunmehr befinden, würde ein von seiner Geburt an sich unter den andern selbst überlassener Mensch der verunstaltetste und verderbteste von allen sein. Die Vorurtheile, der äußere Einfluß, der Zwang, das Beispiel, alle die socialen Verhältnisse, in welche wir uns versunken befinden, würden die Natur in ihm ersticken, ohne ihm einen Ersatz dafür zu bieten. Es würde ihr wie einem jungen Baume ergehen, den der Zufall mitten auf einem Wege aufschießen läßt und den die Wanderer bald zum Welken bringen, indem sie ihn von allen Seiten stoßen und nach allen Richtungen biegen.
    An dich wende ich mich, zärtliche und vorsorgliche Mutter, [1] die du dich von der großen Straße fern zu haltenund das wachsende Bäumchen vor dem Widerstreit der menschlichen Meinungen zu bewahren verstandest! Pflege, begieße die junge Pflanze, ehe sie abstirbt; ihre Früchte werden dereinst deine Wonne sein. Bilde frühzeitig einen Schutzwall um die Seele deines Kindes; ein Anderer kann den Umfang desselben bestimmen, du selber aber mußt die Schranken setzen. [2]
    Man veredelt die Pflanzen durch die Zucht und die Menschen durch die Erziehung. Wurde der Mensch gleich groß und stark geboren, so würde ihm seine ausgebildeteGestalt und seine Kraft jedenfalls so lange unnütz sein, bis er gelernt hätte sich ihrer zu bedienen; sie würden ihm sogar schädlich sein, indem sie die Anderen abhielten an seinen Beistand zu denken; [3] und sich selbst überlassen, würde er in Elend dahinsterben, bevor er seine Bedürfnisse kennen gelernt hätte. Man klagt über den Zustand der Kindheit; man begreift nicht, daß das menschliche Geschlecht schon ausgestorben wäre, hätte der Mensch nicht als Kind das Leben begonnen.
    Wir werden schwach geboren und deshalb sind uns Kräfte nöthig; wir werden, von Allem entblößt, geboren, und deshalb ist uns Hilfe nöthig; wir werden mit unentwickelten Anlagen geboren, und deshalb ist uns Verstand und Urtheilskraft nöthig. Alles, was uns bei unserer Geburt fehlt, und was uns, wenn wir erwachsen sind, nöthig ist, wird uns durch die Erziehung gegeben.
    Diese Erziehung geht von der Natur, oder von den Menschen, oder von den Dingen aus. Die innere Entwickelung unsrer Fähigkeiten und unsrer Organe ist die Erziehung der Natur; die Anwendung, welche man uns von diesen entwickelten Fähigkeiten und Organen machen lehrt, ist die Erziehung der Menschen; und in dem Gewinne eigner Erfahrungen in Bezug auf die Gegenstände, welche auf uns einwirken, besteht die Erziehung der Dinge.
    Jeder von uns wird also durch dreierlei Lehrer gebildet. Der Schüler, in welchem sich ihre verschiedenen Lehren entgegen arbeiten, wird schlecht erzogen, und wird nie zu einer inneren Harmonie gelangen. Derjenige dagegen, bei welchem sie alle auf die nämlichen Punkte gerichtet sind und die nämlichen Zwecke erstreben, erreicht allein sein Ziel und lebt in voller Harmonie. Dieser allein ist gut erzogen. [4]
    Nun aber hängt von diesen drei verschiedenenErziehungsarten die der Natur gar nicht, die der Dinge nur in gewisser Hinsicht von uns ab. Die der Menschen ist die einzige, die wirklich in unsrer Gewalt steht, indeß ist auch dies nur voraussetzungsweise der Fall, denn wer kann wol die Hoffnung hegen, die Gespräche und Handlungen aller derer, die ein Kind umgeben, ganz und gar zu leiten?
    Insofern also die Erziehung eine Kunst ist, kann sie fast unmöglich zu einem günstigen Resultate führen, weil das zu ihrem Erfolge notwendige Zusammenwirken in Niemandes Gewalt steht. Höchstens kann man sich dem Ziele durch viel Mühe und Sorgfalt mehr oder weniger nähern, um es aber wirklich zu erreichen, dazu gehört viel Glück.
    Was ist das für ein Ziel? Es ist das der Natur selbst; das ist soeben bewiesen. Da das Zusammenwirken der drei Arten zu einer vollkommenen Erziehung nothwendig ist, so muß man nach derjenigen, zu welcher wir nichts beizutragen vermögen, die beiden andern richten. Allein vielleicht knüpft sich an das Wort Natur ein zu allgemeiner Sinn; ich will ihn deshalb hier festzustellen suchen.
    Natur, sagt man uns, ist nur Gewöhnung. [5]
    Was heißt das? Gibt es nicht etwa Gewohnheiten,
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