Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Elfenlied

Elfenlied

Titel: Elfenlied
Autoren: Bernhard Hennen
Vom Netzwerk:
Saal durchdrang wie ein fetter Wurm einen mürben Apfel. Sie verursachte mir ein unangenehmes Kribbeln unter der Haut. Mein Fell sträubte sich. Es war ein Gefühl, als würde eine eiskalte Klinge unter mein Nackenfell geschoben.
    Ich sah, wie Gromjans Schnauzhaare nervös zuckten. Er ließ sich auf ein Knie nieder und winkte mir zu, in den weiten Kreis zu treten, den die verschlungenen Schlangenleiber bildeten.
    Wenn man etwas Besonders fürchtet, dann zieht es den Blick an, obwohl man es eigentlich gar nicht sehen will. So war es bei mir mit den Schlangen. Sie wirkten ziemlich lebendig.
    Währende Gromjan mit der linken Hand über den Boden strich und irgendetwas leise vor sich hin murmelte, konnte ich die steinernen Schlangen nicht aus den Augen lassen. Eine war aus schneeweißem Marmor, die anderen aus meerdunkler Jade, hellem Türkis, purpurrotem Porphyr, honiggelbem Bernstein und grauem Granit mit feinen, silbernen Einsprengseln. Die siebte Schlange aber war aus nachtschwarzem Onyx. Sie machte mir am meisten Angst. Sie schien mich zu beobachten wie der mörderische Fisch am Westturm.
    Ich wusste, dass wir inmitten eines Albensterns standen. Einer magischen Pforte, die Reisen von Hunderten von Meilen auf wenige Schritte zu verkürzen mochte. Unzählige Male war ich mit meiner Mutter durch Albensterne getreten. Doch keiner war wie dieser gewesen.
    Gromjan packte mich beim Nackenfell. »Du läufst mir nicht davon!«
    Ich hätte gar nicht laufen können, meine Beine gehorchten mir nicht mehr. Ich wollte schreien, aber ich hatte die Gewalt über meine Stimme verloren. Die Angst hatte vollständig von mir Besitz ergriffen. Und sie wollte mich ausliefern. Mich dem Schrecken überlassen.
    Ein knirschendes Geräusch übertönte die Melodie des fließenden Wassers. Es hörte sich an, als reibe Stein an Stein. Die Schlangen, die uns umgaben, waren zum Leben erwacht. Ihre Leiber scheuerten aneinander. Staub stieg vom Boden auf.
    Die grüne und die weiße Schlange erhoben sich aus dem Mosaik. Sie wiegten sich zum Klang von Gromjans Worten. Er schien keine Furcht zu kennen und sprach mit fester Stimme.
    Nun neigten die Schlangen ihre Häupter einander zu. Sie überragten uns um viele Schritt. Wie Verliebte, die vor dem ersten Kuss zögern, sahen sie einander an, suchten nach Wahrheit in den steinernen Augen des anderen.
    Gromjan sprach ein letztes, befehlendes Wort.
    Gespaltene Zungen fuhren über harte Lippen. Gleißendes Licht blendete mich. Wo gerade noch die beiden Leiber zu sehen gewesen waren, erhob sich nun ein Bogen, der in allen Regenbogenfarben erstrahlte. Hinter ihm lag Finsternis wie eine Mauer aus poliertem Stein. Ein leuchtender Pfad schnitt durch das Dunkel. Ich kannte es gut, das Netz der Albenpfade. Doch zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ich Angst, es zu betreten.
    Gromjan zerrte mich hinter sich her. Ich spürte, dass etwas Böses im Dunkel lauerte, und hütete mich, den schmalen Saumpfad mit einem Schritt zu verfehlen.
    Es war kein weiter Weg. Das war es fast nie. Vor uns erstrahlte ein weiterer Bogen aus Licht. Eine Pforte, die in die grenzenlose Dunkelheit geschnitten war. Warmer Wind wehte uns entgegen. Und ein blauer Himmel spannte sich über wogendes Gras.
    Sobald wir die Pforte durchschritten hatten, fanden wir uns am Fuße eines Hügels wieder. Gras, so hoch, dass es mir fast bis über den Kopf reichte, wogte im warmen Wind. Es war, als seien wir in ein grünes Meer getreten, das uns gestattete, auf seinem Wasser zu laufen.
    Gromjan nickte in Richtung der Hügelkuppe, und ohne abzuwarten, ob ich etwas zu sagen hatte, ging er voraus. Das magische Tor hinter uns sank in sich zusammen. Ein weißer Felsbrocken, in dessen Flanke Pferdemänner und Büffel geritzt waren, markierte den Ort, an dem es eben noch einen Weg durch die Finsternis des Nichts gegeben hatte.
    Ich sah mich um. Das Grasmeer reichte in jeder Richtung bis zum Horizont. Es gab keine Landmarken, weder Baum noch Felsen. Nur sanfte Hügel, die in meinen Augen alle gleich aussahen.
    Ich fühlte mich verloren in dieser weiten, eintönigen Gegend. Hier gab es kein Ziel, nichts, wo das Auge hätte verweilen können. Es war, als sei ich geschrumpft, bis ich noch kleiner und bedeutungsloser war als sonst.
    Ich beeilte mich, Gromjan zu folgen, der einen Hohlweg durch das hohe Gras getrampelt hatte.
    »Jetzt gleich wirst du deine Zukunft sehen«, sagte er. Seine Stimme klang irgendwie gehetzt. Hatte ihn der Zauber, mit dem er das magische Tor
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher