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Eisprinzessin

Eisprinzessin

Titel: Eisprinzessin
Autoren: Lisa Graf-Riemann
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packte sie an beiden Armen, schob sie zurück ins Innere der Halle. Sie schrammte gegen das erste Regal, er hörte einen dumpfen Zusammenprall, dann sah er, wie sie stolperte. Er schob sie weiter, während sie versuchte sich aus seinem Griff zu lösen und ihn in die Hand zu beißen. Da versetzte er ihr einen Stoß, und sie taumelte, schrie wütend auf und knurrte wie eine Raubkatze.
    Sie wand sich aus seinen Händen, stürzte rückwärts zu Boden, dann lag sie da und rührte sich nicht mehr. Ihr Kopf war zur Seite gefallen. Als er sich über sie beugte, starrte sie ihn aus weit aufgerissenen Augen an. Auch ihr Mund stand leicht offen, aber sie sagte nichts mehr. Als er ihre Wange berührte, reagierte sie nicht. Ihr Kopf fühlte sich an wie eine Bowlingkugel. Er strich mit der Hand über das schmutzige Eisen, auf das sie mit dem Hinterkopf geschlagen war, spürte feine Holzspäne, Lackreste und dann diese sämige Flüssigkeit. Ihr Blut. Sie lag da, und ihre Augen starrten und sahen nichts mehr. Sie war einfach tot.

ZWEI
    Die Leuchtanzeige an der Fassade gegenüber gab abwechselnd Uhrzeit und Temperatur an. Sechzehn Uhr dreißig. Fünfzehn Grad. Stefan Meißner zog den Reißverschluss seiner Lederjacke zu. Zu Hause hatte es mindestens zehn Grad weniger, und trotzdem fror er. Sein Temperaturempfinden kümmerte sich nicht um die Anzeige auf dem Thermometer. Im Hotel hatte er lange und heiß geduscht, aber sein Hemd unter der Jacke war einfach zu dünn. Beim Packen war er eher auf Spätsommer eingestellt gewesen.
    Der Wind wirbelte die blonden Mähnen von drei jungen Frauen, die ihm entgegenkamen, wie in einem Werbespot einer Haarpflegefirma durcheinander. Er starrte auf ihre hautengen Blusen, in ihre hübschen Gesichter und glaubte, dabei etwas über sich selbst zu erfahren. Sie hingegen nahmen ihn gar nicht wahr. Flüchtig dachte er an einen Apfelbaum voller reifer, rotwangiger Früchte. Er atmete tief ihren Duft nach Jugend und Parfümerieabteilung ein. Da er dem blonden Dreigestirn nicht auswich, löste es sich für die Dauer eines Augenblicks auf, nur so lange, bis er hindurchgeschlüpft war.
    Er würde ein paar Aufnahmen mit seinem iPhone machen und sie nach Ingolstadt schicken. Wenn Fischer gut gearbeitet hatte und alles so ausging, wie er jetzt dachte und hoffte. Er stellte sich ihre Gesichter vor. Das Gesicht seines Chefs, das des Neuen, dieses Idioten, der gedacht hatte, den Fall im Handumdrehen gelöst zu haben, und ihn, Meißner, wie den Versager vom Dienst aussehen lassen wollte. Vor allem aber interessierte ihn Marlus Gesicht. Dass sie wie alle anderen im Präsidium auf den übereifrigen Supermann hereingefallen war, das hatte ihm einen richtigen Stich versetzt. Schöner wäre es natürlich, er könnte nach seiner Rückkehr einen Packen Polaroids mit Pathos auf den Tisch knallen und keine Pics, die man mit einem Fingerswitch geräuschlos auf dem Display weiterschiebt.
    Er spazierte an der »Cristal-Bar« vorbei, auf deren Terrasse es trotz der frischen Temperaturen nicht einen freien Platz gab. Die Heizstrahler reichten nicht für alle Tische, aber den Leuten machte die Kälte anscheinend nichts aus. Als er an einem der Außentische vorbeiging, stand ein Pärchen auf, sie mit einem kurzen Jeansrock, ein winziges Stück ausgewaschenen blauen Stoffs, das eine Handbreit unter dem Po endete, und einer Wollstrumpfhose mit Lochmuster. Dazu Schuhe mit zehn Zentimeter hohen Keilabsätzen. Meißner überlegte, wie lange man trainieren musste, bis man sich darin gefahrlos fortbewegen konnte. Er wusste es nicht, hatte sich in seinem Leben noch nie mit dieser Frage beschäftigt und konnte sich immer nur vorstellen, wie es war, mit solchen hochhackigen Dingern umzuknicken. Höllisch wehtun musste das.
    Er setzte sich. Der Tisch stand günstig. Meißner beobachtete das Treiben auf dem Platz, blickt hinüber zum Bahnhof, von dem tagsüber hundert Jahre alte Züge abfuhren. Als der Ober ihm sein Bier servierte, war alles gut. Fast gelang es ihm, sich hier ein wenig zu entspannen, tief im Süden, am Meer, und nicht an den Kollegen zu denken, von dem er annahm, dass er auch in diesem Moment wieder hinter Marlu her war.
    Dieser »Alles ist gut«-Zustand dauerte keine zehn Minuten, dann spürte er schon wieder die Unruhe, die sich auch nicht mit einem Schluck Bier bekämpfen ließ.
    Er konnte kaum glauben, was er da plötzlich sah, eine Szene wie aus einer Herbstkomödie, trotzdem sprang er automatisch auf, noch während er
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