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Eisprinzessin

Eisprinzessin

Titel: Eisprinzessin
Autoren: Lisa Graf-Riemann
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überlegte, ob es ein Ernstfall war und sich das Aufspringen überhaupt lohnte. Schnell, aber nicht besonders geschickt kam er auf die Füße, stieß mit seinem Oberschenkel gegen den Tisch, sodass das noch halb gefüllte Bierglas kippte, vom Tisch rollte, fiel. Meißner lief los. Keine zehn Meter von ihm entfernt hatte ein Mädchen einem älteren Mann das Herrentäschchen aus der Hand gerissen und wollte damit abhauen. Meißner hatte nie so ein Täschchen besessen, nicht einmal in den Siebzigern oder Achtzigern, als sie modern waren, aber vielleicht auch nur, weil er damals noch zu jung dafür gewesen war. Heute konnte man sich eigentlich nicht mehr damit sehen lassen. Außer vielleicht, man war ein alter Herr mit zu kleinen Manteltaschen.
    Sehr gut, dachte Meißner, die kauf ich mir. Die Diebin drehte sich kurz um, sah ihm direkt in die Augen, taxierte seine Fitness, und Meißner glaubte, dass sie eigentlich schon verloren hatte. Er spürte seine Halsschlagader anschwellen, merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er würde sie erwischen, da war er sich sicher. Noch einmal drehte sie sich zu ihm um, lachte und beschleunigte. Der Abstand zwischen ihr und ihrem Verfolger wurde eher größer als kleiner, als sie in eine Seitengasse abbog. Es ging bergauf. Meißners Herz raste. Er hatte das Gefühl, als müsse er eine endlose Rolltreppe erklimmen, die abwärtsfuhr statt aufwärts, als müsse er gegen ihre Laufrichtung ansprinten. Die dunklen Locken der Taschendiebin wippten auf und ab. Ihr Kopf wurde immer kleiner. Schweißnass gab er nach fünf-, sechshundert Metern die Verfolgung auf. Er würde sie nicht mehr einholen. Unmöglich. Er sah noch, wie sie am Ende der Gasse nach links abbog, dann war sie verschwunden.
    Er strich sich das Haar aus der Stirn, stopfte das weiße Hemd zurück in die Hose und zog sich die in die Schuhe gerutschten Socken wieder hoch. Wenigstens keine Blasen an den Fersen. Ihm blieb nur, in die Bar zurückzugehen. Der alte Herr sah ihm erwartungsvoll entgegen, aber Meißner zuckte die Achseln und konnte ihm nichts als seine leeren Hände zeigen. Der Mann war sichtlich enttäuscht. Der Kellner, der gerade die Glasscherben aufkehrte, fragte, ob er ihm ein neues Bier bringen sollte. Meißner schüttelte den Kopf, legte drei Euro auf den Tisch, nahm eine Serviette aus dem Spender und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    Er ging den breiten Boulevard weiter hinab, vorbei an einer Grünfläche mit Dattelpalmen. Die Häuser wurden niedriger, die Menschen auf den Straßen, der Verkehr und das Licht weniger. Über einer Eckkneipe stand in Leuchtschrift »Bar Europa«. Mit zwanzig Gästen war das Lokal fast voll. Auf dem Flachbildschirm neben der Theke lief ein Fußballspiel, das von Werbung für Waschpulver und Tiefkühlpizza unterbrochen wurde. Plötzlich schrien die Männer »Goool!« , doch der Ball rollte knapp am Tor vorbei ins Aus.
    Nur mit einem Fuß betrat Meißner das Lokal, dann blieb er stehen und beobachtete die Szene. Einige der Gäste unterhielten sich, die anderen starrten auf den Bildschirm. Kein Mensch nahm Notiz, als er sein Handy in Position brachte und rasch hintereinander einige Fotos machte. Als ein Hocker an der Bar frei wurde, nahm er Platz.
    »Sprechen Sie Deutsch?«, fragte er die Frau hinter dem Tresen.
    Sie musterte ihn. »No, sorry«, sagte sie und schüttelte bedauernd den Kopf.

DREI
    Der Herbst fing nicht gut an für Hauptkommissar Stefan Meißner. Sein erstes Unglück in diesem Herbst hatte die Form eines unwiderstehlich gut aussehenden, braun gebrannten und vor Gesundheit strotzenden Schwulen, der sein Kollege bei der Kripo Ingolstadt war und Elmar Fischer hieß, immer frisch gewaschen und gebügelt wirkte und ihm mit seiner übertrieben guten Laune nun schon seit Jahren auf die Nerven ging.
    Als Fischer nämlich von seinem Urlaub auf Ibiza zurückkam, strahlend wie ein blank gewienertes Kreuzfahrtschiff auf der Jungfernfahrt, erklärte er, noch ohne dass ihn jemand danach gefragt hatte, er habe sich unsterblich verliebt.
    »Was heißt hier unsterblich?«, fuhr Meißner den Kollegen unromantisch an.
    »Na, so richtig halt, mit Haut und Haar, volle Kanne eben. Sieht man mir das etwa nicht an?«, antwortete Fischer.
    »Doch.« Er sieht wirklich unverschämt gut aus, dachte Meißner, aber genau deshalb passt er, noch dazu mit seinem Superglück und seiner Superlaune, überhaupt nicht hierher. Er sah zu seiner Kollegin Marlu hinüber und stellte fest, dass Fischers
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