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Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)

Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)

Titel: Eisglieder am Dackelrücken - 44 Berliner Szenen (& eine Zugabe) (German Edition)
Autoren: Ansgar Warner
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stehen, und ich wäre nicht überrascht, statt echten Menschen auf Plastinate zu stoßen. Doch als ich vor dem Bahnübergang am Ende des Dorfs an den automatischen Halbschranken warten muss, kommt ein junges Elternpaar auf Fahrrädern hinzu, hinter ihnen in einiger Entfernung ein behelmtes Kind, erschöpft und weinend. “Ich bin sehr enttäuscht von dir!”, ruft die Mutter ihm zu. Und der Vater ergänzt: ”Bald kommst du in die Schule, da beginnt der Ernst des Lebens! Da musst du weitermachen, auch wenn du nicht mehr kannst, und deine Reserven mobilisieren!” Das Kind weint noch lauter, und Gott sei Dank kommt endlich der Zug.

Verkehrsberuhigte Zone
    Anfangs war V. ja glücklich, so schnell ein Zimmer in Uni-Nähe gefunden zu haben. Ihre Doktorarbeit über Serienmord im amerikanischen Gegenwartskino ist gerade in der heißen Phase. Da kann sie keinen Wohnungsstress brauchen. Das Haus liegt in einer verkehrsberuhigten Zone. Im Erdgeschoss hat die FDP Büroräume angemietet, die oberen Etagen sind von WGs besetzt. Doch mittlerweile bedauert sie ihre Entscheidung. Die Wände sind dünn und die Nachbarn laut.
    Nicht immer, aber beim Sex schon. Und sie lassen keinen Tag aus. Während ich neulich mit V. telefonierte, konnte ich es mit eigenen Ohren hören: ein Geräusch, das mich spontan an einen Konzertmitschnitt “Beatles live in Japan 1966″ erinnerte. Zumindest, was das Gekreische der Teenager-Fans vor der Bühne betrifft. Als sich der Nachbar letzte Woche ein Kuchenmesser ausgeliehen hat, wollte V. das Thema schon einmal vorsichtig anschneiden. Doch dann hat sie’s gelassen: “Was, wenn er sagt: Wieso, wir machen doch was ganz anderes!?” Als Kulturwissenschaftlerin ist V. Anhängerin der konstruktivistischen Schule. Natürlich weiß man nie, was die Leute hinter der Wand wirklich tun.
    Sie hat dann begonnen, strukturierter an das Problem heranzugehen, und einen Brief geschrieben. Wie spricht man so ein heikles Thema an!? Förmlich oder eher liberal? Mit Einleitung, Hauptteil, Schluss? Anonym oder “Mit freundlichen Grüßen, X.”? Allein über die richtige Schrifttype hat V. tagelang nachgedacht. Mehrere Versionen hat sie getippt, ausgedruckt und zu den anderen in den Papierkorb geworfen. Die letzte Fassung entstand nach einer weiteren schlaflosen Nacht handschriftlich. Man merkt ihr das konstruktivistische Theoriedesign gar nicht mehr an. Auf dem Zettel steht: “Könnt ihr bitte leiser ficken?”

Container Love
    Ein leerer Kundenparkplatz vor einem Aldi. Samstagnachmittag, zwischen Ladenschluss und dem Einbruch der Dämmerung. In der Ferne rumpelt ein Güterzug. Ich lehne an einer Reihe von Einkaufswagen und warte. Eine Freundin mit Kontakten zur Szene hat mir den Tipp gegeben: “containern”, der neue Trend.
    Weil Mittelschichteltern es mittlerweile cool finden, im Discounter zu shoppen, holen sich Mittelschichtkinder den Kick jetzt nach Ladenschluss. Eine Mittelklasselimousine fährt auf den Parkplatz. Das Licht erlischt. Heraus steigen drei junge Frauen und ein noch jüngerer Mann. Eine der Frauen hat ein langes Abendkleid an, die anderen sehen eher unauffällig aus. Sie haben Werkzeug dabei. Wir gehen zur Rückseite des Gebäudes. Dort steht eine Reihe Müllcontainer, rote, grüne, silberne. Mit Eisenketten gesichert, doch die Kettenglieder lassen sich aufbiegen. Die Haube eines Containers schnappt schmatzend nach hinten: Drin sind blaue Säcke, voll mit Lebensmitteln. Original verpackt. Auf dem Pflaster stapeln sich bald Kartons mit Schokowaffeln, Margarinewürfeln, Jogurtbechern. Die Haltbarkeitsdaten sind fast abgelaufen.
    Die Mitglieder der Container-Crew klettern in die müffelnden Schlünde der Behälter, verschwinden bis zum Kopf im Konsumabfall. Angetaute Tiefkühlpizzas kommen zum Vorschein, welke Salatblätter, zerbeulte Blisterpackungen mit Gorgonzola. Die Beute landet im Kofferraum des Autos. Sorgfältig werden die Container wieder verschlossen. Der Motor springt an, die Container-Crew zieht weiter, zum Wal-Mart ein paar Straßen weiter. Ich bleibe zurück, in der Jackentasche eine Piccoloflasche Kupferberg. An der nächsten Straßenecke werfe ich sie in einen Mülleimer.

Atavismus
    Zwischen Bushaltestelle und Kiosk steht seit den Siebzigerjahren eine Filiale des Arbeitsamtes. Vorher, als es noch Arbeitsplätze gab, stand dort 
eine Brauerei. Noch viel früher eine Pulverfabrik. Tja, die Zeit verrinnt 
unaufhaltsam, ganz so wie das importierte Dosenbier, das die 
rotgesichtigen
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