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Eisblume

Eisblume

Titel: Eisblume
Autoren: Sybille Baecker
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entlang, unter dem Vorsprung, den die darüberliegende Straße bildete. Über sich konnte sie die Autos hören, die dort entlangfuhren. Aber sonst war es heute still hier.
    Sie kannte die Geräusche am Fluss, sie kam fast jeden Abend hierher. Manchmal rauschte das Wasser des Neckars in hohem Tempo vorbei, ein andermal gluckerte und gluckste es, mal schien es fast zu flüstern. Leise, als ob die Wassergeister etwas erzählen wollten.
    Aber heute schwieg der Fluss. Seine Oberfläche war ganz glatt und dunkel. Fast sah es aus, als habe er aufgehört zu fließen.
    Lea lief, weiter und weiter. Konzentrierte sich auf ihren Atem. Einatmen, ausatmen, Schritt für Schritt, so lange, bis sie den Schweiß an ihren Schläfen spüren konnte.
    Inzwischen waren auch die letzten Spaziergänger verschwunden. Niemand war mehr zu sehen. Nur die Bäume am Ufer streckten wie riesige gebeugte Gestalten ihre knorrigen Arme über den Fluss.
    Ein Geräusch. Lea schaute sich um, blickte suchend in das Dämmerlicht. Aber schon war es wieder still.
    Obwohl sie schwitzte, spürte sie die Kälte, die an ihren Beinen hochkroch, über ihre Schenkel, ihr Gesäß, bis hin zum Rücken. Kälte, die vom Wasser kam.
    Lea drehte um. Es war genug für heute. Sie musste noch Vokabeln lernen.
    Erstaunlicherweise kam sie gut mit. Dabei war sie in der Schule so eine Niete in Englisch gewesen. Restaurant, das hieß auf Englisch das Gleiche wie auf Deutsch. Aber wenn es nur Kleinigkeiten zu essen gab, wie nannte man das? Snackbar?
    Erst im letzten Moment sah Lea den großen Ast, der quer über dem Weg lag. Fast wäre sie darüber gestolpert.
    Aber es lag noch etwas auf dem Boden, schimmerte hell. Eine Geldbörse. Daneben einige Münzen und ein Zwanzigeuroschein. Hatte das schon da gelegen, als sie hergelaufen war? War sie so in Gedanken gewesen, dass sie es nicht bemerkt hatte?
    Lea bückte sich. Es war nicht nur ein Geldschein. Verstreut über dem Weg lag eine ganze Reihe von Scheinen und Münzen, fast so, als habe jemand nach einem Bankraub seine Beute verloren.
    Sie spähte den Weg entlang. Niemand war zu sehen. Dann fing sie an, aufzusammeln, was sie im schwachen Licht entdecken konnte. Münze für Münze, Schein für Schein steckte sie in ihre Hosentasche, folgte der Spur des Geldes, bis sie direkt am Ufer stand.
    Hinter ihr ein Geräusch. Ein Fuß, der aufgesetzt wurde, ein Schritt, leise, voller Vorsicht. Und doch laut genug, dass Lea ihn hören konnte.
    Sie stand da wie erstarrt, den Blick auf die Lichter am anderen Ufer gerichtet. Traute sich kaum zu atmen.
    Bestimmt hatte da eben noch nichts gelegen. Kein Ast und auch kein Geld.
    Wie konnte sie nur so dumm sein.
    Langsam drehte sie sich um.
    Der Schlag traf Lea mit voller Wucht.
    Sie fiel zur Seite, sackte zusammen, ein Stoß, und sie stürzte in den dunklen Fluss hinein. Hände legten sich auf ihre Schultern und drückten sie unerbittlich nach unten. Eiskalt strömte das Wasser in ihre Lunge und holte sie für einen kurzen Moment ins Bewusstsein zurück. Voller Panik schnappte sie nach Luft.
    Vergeblich.
    Bilder stiegen in ihrem Kopf hoch wie die Luftblasen zur Oberfläche des Flusses.
    Die kleine Lea im weißen Kleid unter dem Kirschbaum, eine Puppe auf dem Arm, ein Käfer auf einem Blatt, grüngolden schillernd. Der Vater, am Esstisch, eine halb volle Flasche auf der karierten Tischdecke. Die Mutter, die den Kopf zur Zimmertür hereinsteckt. Was machst du, Lea? Träumst du wieder?
    *
    Es gab so einiges, was Hauptkommissarin Maria Mooser in ihrem Leben lieber nicht gesehen hätte. Die Leiche dieser jungen Frau gehörte ganz sicher mit dazu.
    Sie lag auf dem schmalen Weg am Neckarufer, wo Schlammspuren von einer hastigen, aber leider erfolglosen Rettungsaktion zeugten. Die Kleidung klebte auf ihrem schlanken Körper wie eine zweite Haut. Sie hatte ein ausnehmend hübsches, fast noch kindlich wirkendes Gesicht.
    Ein ganz klein wenig erinnerte Maria die Tote an ihre Tochter Vera, wenn sie früher nach langem Rufen endlich mit blau gefrorenen Lippen aus dem Badeweiher kam.
    Je jünger und unschuldiger ein Mordopfer aussah, umso schwieriger war es, nicht einfach dazustehen und in dumpfes Brüten darüber zu verfallen, wie schlecht die Welt war. Das wusste sie nach über dreißig Jahren bei der Kripo nur zu gut. Trotzdem, sie konnte es ihrem Assistenten nicht durchgehen lassen.
    »Alsberger, ich kann sehen, dass Sie die Augen zu haben.«
    Er stand mit gesenktem Kopf neben ihr, sodass es für alle anderen
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