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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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von Raketen und Satelliten, von kosmischen Strahlen und Atomzentren, ich aber frage mich: Was ist mit dem Menschen? Was ist mit dem Menschen? frag ich mich. Das ist für mich das Grundproblem!“
    Die Frage war gefallen, wie ein schwerer großer Stein in ein tiefes Wasser, und alle schauten dem Dichter nachdenklich und betroffen ins Gesicht und auf den Mund, als fänden sie sich über dieses dunkle Wasser gebeugt und versuchten zu erkennen, wohin der Stein versinke, und betrachteten, wie die Ringe sich über die schwarze Oberfläche verbreiten, und fragten sich, ob das trübe, drohende Wasser auch sie, die darübergebeugt waren, erfassen und überschwemmen werde.
    „Was ist mit dem Menschen?“ wiederholte der Dichter zum drittenmal seine schicksalhafte, strenge Frage, und alle fühlten sich schuldig und schauten sich jäh um – wie wenn in einer Gesellschaft ein verlorengegangener, verschwundener kostbarer kleiner Gegenstand gesucht wird und alle sich, auch unbewußt, als Diebe fühlen. „Was soll uns dieser technische und gesellschaftliche Fortschritt ohne den Menschen? Ohne das freie, volle und durch nichts gehemmte Aufblühen seiner gesamten menschlichen Natur. Wir führen Revolutionen durch, schaffen neue Gesellschaftsordnungen, aber den Menschen und seine Persönlichkeit pressen wir mit einer immer größeren Anzahl von Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften, gesellschaftlichen Verpflichtungen, Moralkodizes und ethischen Regeln. Wir errichten Industrien, Verkehr und Kommunikationen – und vergessen den Menschen, den wir mit allem Möglichen zugeschüttet und niedergewalzt haben wie Gras, und lassen ihn sich nicht entwickeln und wachsen. Und was wird sein, wenn wir ins All vordringen und den Marsmenschen begegnen: Wie und womit werden wir uns ihnen vorstellen? Womit sollen wir vor sie hintreten? Wir werden nicht einmal sagen können, daß wir Menschen sind. Und darum muß man zuerst den Menschen wieder ausgraben. Ihn ausfindig machen, bevor wir ihn für alle Zeiten verloren haben. Jenen wahren, ursprünglichen Menschen in uns, den Fossilmenschen, den man zu neuem Leben erwecken muß. Den Menschen zu seiner eigenen Natur zurückführen, zu einer menschlichen, menschheitlichen Wirklichkeit. Man muß mit dem Werk der abermaligen Menschwerdung des Menschen beginnen. Dazu muß man abtragen, in die Tiefe graben, alle Fesseln sprengen, aber nicht in die Höhe steigen, ins All, im stählernen Panzer der Raketen und Satelliten.“
    Der Dichter nahm die Brille ab und wischte sich mit einem weißen Taschentuch aus der Brusttasche seiner Jacke das Gesicht. Alle schwiegen noch. Sie brauchten Zeit, sich zu sammeln. Der Genosse Direktor fühlte sich etwas verwirrt durch diesen Sturzbach von Worten, die er nicht ganz verstanden und denen er auch nicht hatte folgen können. „Ja“, bekräftigte er als derjenige, der sich im Zentrum der Gesellschaft und der allgemeinen Aufmerksamkeit wußte, und trank das angebotene Gläschen Kognak leer. „Ja“, wiederholte er, „der Mensch ist die Hauptsache. Man muß ihm Aufmerksamkeit widmen. Man muß ihm auf jeden Fall die erforderliche Aufmerksamkeit widmen.“ Der Dichter aber erhob sich und ging zwischen den auf dem Boden Sitzenden hindurch, als schreite er über ein mit Leichen besätes Schlachtfeld. Von sämtlichen Blicken begleitet, schlug er sich bis zum Bord auf der gegenüberliegenden Seite durch und nahm dort etwas an sich. Er wandte sich allen zu, hob das, was er in der Hand hatte, hoch über sich und zeigte es allen, als halte er ihnen das Kreuz hin, um sie darauf einzuschwören. Es war die kleine Figur einer vollbusigen Frau mit aufgelöstem Haar und nackten Brüsten, an denen, wie an den Zitzen einer Hündin, etliche nackte Kinder hingen.
    „Da“, sagte er. „Der ursprüngliche Mensch – der Mensch aus der Eiszeit und aus dem ewigen Schnee. Noch unbelastet vom Gewicht unserer Kultur. Frei von allen gesellschaftlichen Normen. Der menschenhafte Mensch, nackt und ungehemmt. Schaut, welche Kraft des Ausdrucks! Welche Macht des Gefühls! Wieviel wahrhaftige, gewaltige Schönheit!“
    Er wendete die Figur in seiner Hand – sie schimmerte im Lampenlicht. Langsam, mit Aufmerksamkeit, stellte er sie auf das Bord zurück.
    „Naiv, primitiv und aufrichtig“, sagte er. „Das ist mehr wert und spricht eine menschlichere Sprache als die Kunst des heutigen, mechanisierten, disziplinierten, versklavten und, verzeiht, des heutigen kastrierten, ausgebleichten Menschen. Des
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