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Eis

Eis

Titel: Eis
Autoren: Erich Kosch
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mich heute abend wie ausgespannt, in der Erwartung, daß jemand kommt.“ Dem Direktor war, als müsse man jetzt das wahre, entscheidende Wort sagen: Da bin ich! – Aber er war sich nicht sicher und getraute sich nicht. Und auf einmal, erregt, mit Mühe den Wunsch bezähmend, genau das zu sagen, spürte er, daß ihm kalt war, und ihn fröstelte sichtlich.
    Der Winter, beschworen und erwähnt, ließ sich nicht so leicht von der Tagesordnung streichen. Alle spürten ihn, und durch alle ging eine leichte Frostwelle, wenngleich die Öfen noch warm und die Fenster geschlossen waren. Die Hausfrau erhob sich und ging, um die elektrischen Heizkörper einzuschalten, und jemand sagte: „Man müßte etwas erfinden.“
    „Ja, etwas müßte man erfinden!“ pflichteten sie bei. Die Genossin auf dem Fußboden schlug vor: „Man müßte Schiffe vor unser Land spannen und es um ein paar Breitengrade südlicher schleppen, auf die Höhe Afrikas. Nur dort würde ich mich wahrhaft warm und wohl fühlen.“ Der Hausherr kreischte: „Eine Welt-Zentralheizung!“ Aber sie hörten ihm nicht mehr zu, und seine Stimme ging in allgemeinem Lärm unter.
    Mitternacht war vorbei: Speisen und Getränke alle aufgetragen, weiteres nicht mehr zu erwarten. Das Gespräch hatte einen weiten Kreis beschrieben, und nun sprachen alle mit voller Stimme, ohne aufeinander zu hören im dichten Rauch, in dem die Gesichter nicht mehr deutlich zu erkennen waren. Gesprächspartner erhoben sich, liefen im Zimmer auf und ab und kehrten dann, wie Sänger nach dem Absingen ihrer Arie, wieder auf ihre Plätze zurück. Die Nichte erklärte, so vom Fußboden herauf, daß russische Raketen bald zum Mars abfliegen werden. „Ja“, ergänzte die Frau des Journalisten schon ein wenig angeheitert, „wohin sollten sie sonst; sie sind eine grobe Macht – die Amerikaner werden dafür zur Venus …“ Sie lachte laut auf, und ihr Mann sprang herzu und setzte sachverständig fort: „Was wollen die dort? Nach meiner Erfahrung ist gerade dort eine grobe Macht am notwendigsten. So viel ich weiß, ist die Venus für unsere eigenen Leute reserviert.“ Jemand war indessen der Ansicht, es würden bald Fernsichtapparate erfunden werden, so daß wir’s gar nicht nötig haben werden, zum Mond zu fliegen, um zu sehen, was dort los ist. Mit besonderen Brillen wird man durch jede Mauer sehen und mit besonderen Hörgeräten jedermanns Gedanken lesen können. „Oh!“ sagten sie und zogen den anwesenden Botschaftsrat auf, „in diesem Fall wird die Diplomatie überflüssig. Fernglas und Telefon werden sie ersetzen.“
    Sie zerteilten sich in Blöcke, und als sie sich auf der Suche nach Verbündeten umzusehen begannen, bemerkten sie den düsteren Dichter, der bis dahin ruhig, mit gefalteten Händen, in seinem Fauteuil gesessen und irgendwohin zur Decke geschaut hatte. „Was denken Sie, Genosse Babic?“ fragten sie ihn.
    „Was sagen Sie dazu?“ fragten sie noch einmal. „Werden wir bald in das All vordringen?“ – „Werden wir vielleicht sogar bald die Marsbewohner ausfindig machen?“ wollte die nacktbeinige Frau auf dem Fußboden wissen, und die des Journalisten nahm ein Kissen und setzte sich neben sie, um den Dichter besser sehen zu können. Dieser indessen fuhr hoch wie aus einem Traum. „Warum?“ fragte er und hob die Brauen. „Wozu?“ wiederholte er und breitete die Arme aus. „Warum sollten wir ins All vordringen und die Marsbewohner suchen? Haben wir nicht genug auf der Erde zu tun, hier unter uns? Wozu sollen wir Marsmenschen suchen, wenn wir uns selbst noch nicht gefunden haben?“
    Er verstummte für einen Augenblick. Stille trat ein und eine Unterbrechung aller beiläufigen Gespräche. Noch eine Frau sank auf den Fußboden, neben die beiden anderen, und umarmte sie und schaute den Dichter an. Und alle anderen drehten sich zu ihm um, wissend, er werde jetzt etwas sehr Schlimmes, dämonisch Böses und Originelles sagen. Im Augenblick hoher intellektueller Stille, Spannung und Aufmerksamkeit, in der eingetretenen Pause, vibrierten fein jedermanns Gehirnganglien in irgendeiner sich süß verlängernden Erwartung, und dabei war’s, als höre man einen gespannten Draht in feinen und hohen Schwingungen zittern – mit einem eintönigen, langausgehaltenen geheimnisvollen Ton, etwa wie das Pfeifen von Schneesturm und das Rauschen von rieselndem Schnee.
    „Wir sprechen von technischem Fortschritt und gesellschaftlichem Progreß, phantasieren von der Eroberung des Alls,
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