Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
Vom Netzwerk:
Bruder lebte noch drei Tage. Während ich mit Lexi und Max in die Berge wanderte, fuhr Mutter nach Trier in das Lazarett, in das sie ihn gebracht hatten. Sie fuhr allein, ich ahnte nichts, meinen Vater erreichte die Nachricht erst Tage später. Außer Lexi und Max wusste nur Großtante Josefine davon, die als Rotkreuzoberin die Einzige war, die man zu Fabian ins Krankenzimmer ließ. Meine Mutter saß währenddessen auf einer Bank vor dem Haus und verhandelte mit Gott.
    Dass sie nicht allein um Fabian zitterte, ahnte sie nicht. Mit ihr bangten und beteten zehn Familien in einem kleinen Dorf in Frankreich, deren Söhne, Väter und Großväter als Geiseln für das Leben meines Bruders genommen worden waren.
    Als der Lazarettarzt Mutter mitteilte, man habe nichts mehr für Fabian tun können, tröstete er sie damit, dass mein Bruder Genugtuung erfahren habe, denn sein Tod sei bereits gesühnt. Meine Mutter verstand nicht, was das bedeutete. Fabians vorgesetzter Offizier, der das wohl ahnte, ging in seinem Kondolenzschreiben deshalb noch einmal ausführlich darauf ein.
    »Du kannst uns jederzeit anrufen, wenn ihr Hilfe braucht!«, hatte Lexi mir eingeschärft, als sie mich in Würzburg in den Zug nach Hause setzte. »Bitte ruf an, Klexchen, ja? Ich bin nächste Woche wieder in Berlin.«
    Klexchen war ihr Kosename für mich, wegen meiner Vorliebe für einen ganz kleinen, sparsamen Klecks Honig auf dem Butterbrot.
    Beim ersten Mal, als ich sie anrief, klingelte das Telefon minutenlang; es war die Nummer ihres Büros in der Luftkriegsakademie und es meldete sich schließlich das Fräulein vom Amt mit dem Rat, es später zu versuchen. Beim zweiten Mal, diesmal mit der Nummer ihrer Wohnung in Gatow, war die Verbindung so schlecht, dass es nur rauschte und knackte und sie nicht erkannte, dass ich es war. Beim dritten Mal hatte ich sie endlich am Apparat, aber es dauerte zwei weitere Tage, ehe sie bei uns auftauchte.
    »Dreiunddreißig Tote wegen einer Pastete!«, schrie meine Mut‑
    ter sie an. »Und du hilfst ihnen noch, diesen Krieg zu gewinnen!« Lexi zuckte zusammen. »Du weißt, warum«, sagte sie leise. »Ich weiß. Ich weiß, ich weiß! Wir haben alle irgendeinen Grund, nicht wahr?«, erwiderte Mutter verbittert.
    »Du hast jedes Recht, wütend zu sein, Almut. Auch auf mich.« »Hör auf damit, bitte! Tu mir den Gefallen und sei jetzt einfach still!«
    Nachher standen wir auf der Straße, Lexi und ich, an die Hauswand gelehnt, gleich neben dem Schild in Mutters Schaufenster: Wegen Trauerfall vorübergehend geschlossen. Lexi rauchte und war ganz blass, und plötzlich entfuhr ihr: »Ich wollte auch lieber Sanitätsflugzeuge fliegen!«
    »Tut mir leid, dass ich angerufen habe«, murmelte ich.
    »Ach, Klexchen, das war doch ganz richtig. Ich komme morgen wieder, vielleicht redet sie dann mit mir. «
    Aber so lange musste sie dann doch nicht warten, denn spät an diesem Abend rief Mutter sie an, brach am Telefon in Tränen ausund sagte: »Entschuldige, ich hab’s nicht so gemeint. Ich weiß doch, dass gerade dir nichts anderes übrig blieb ...«
    Sie schloss sofort die Wohnzimmertür, als sie merkte, dass ich zuhörte, und ich wartete in der Küche, wo ich meiner Ratlosigkeit zum ersten Mal erlaubte, sich in Wut zu verwandeln.
    War das noch normal? Konnte sie nicht einfach trauern, wie jede andere Mutter auch? Da hätte ich mitmachen können, auf der Stelle, ich konnte Fabians Tod gar nicht fassen. Aber sein Name war noch kein einziges Mal gefallen. Meine Mutter war wie besessen von den »dreißig Franzosen«.
    Eine Woche zuvor waren wir bei der Deutschen Allgemeinen gewesen, um die Anzeige aufzugeben. Mit einem ernsten, feierlichen Gefühl trug ich meine noch ungewohnte schwarze Bluse; beinahe hatte ich von Neuem weinen müssen, als ich mich im Spiegel sah.
    Für die Anzeige gab es mehrere vorgeschriebene Formate und alle endeten mit dem Zusatz: In stolzer Trauer . »Den Zusatz will ich nicht«, sagte meine Mutter. »Ich bin nicht stolz.«
    Der Setzer schaute kurz nach rechts und links, beugte sich vor und sagte leise: »Meine Dame, seien Sie still. Um Ihrer anderen Kinder willen ...«
    »Ich habe nur noch meine Tochter«, antwortete Mutter, »und die ist alt genug zu erfahren, was Recht und Unrecht ist. Mein Sohn war unvorsichtig und unschuldige Menschen mussten dafür büßen. Schreiben Sie: Wir sind sehr traurig. «
    »Das geht wirklich nicht«, erwiderte der Setzer nervös. Ein zweiter Mann kam hinzu. Man roch den Nazi
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher