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Einundzwanzigster Juli

Titel: Einundzwanzigster Juli
Autoren: Ravensburger
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Wohnzimmer.
    »Abendessen, Oma Luchterhand! «, rufe ich, um sie zu wecken, und zünde die dickbauchige Kerze an, die auf dem Tisch steht. »Lass es dir schmecken!«
    Ich nehme die Gabel und merke erst jetzt, wie hungrig ich bin – seit der Butterstulle im Zug habe ich nichts mehr gegessen. Der Kohl schmeckt schon leicht säuerlich, zusammen mit dem Brot ist es aber auszuhalten. »Isst du die alten Schnitten noch? Wenn nicht, würde ich ... ! «
    Aber Oma Luchterhand ist offenbar der Ansicht, dass es sich nicht lohnt, für ein bisschen Kartoffeln und Kohl die Augen aufzumachen. »Kalt schmeckt es nicht besser!«, wende ich ein und greife nach einer der halb vertrockneten Brotscheiben auf ihrem Teewagen.
    Und da erst sehe ich die kleine braune Pfütze auf dem Boden, und die Scherben der Kaffeetasse, und die verkrümmte, von blauen Adern durchzogene Hand. Und ich sehe das alles wie Bilder, die ein Projektor an die Wand wirft, blitzlichtartig und ganz ohne die Augenblicke dazwischen, in denen ich Mut fasse, von einem Bild zum anderen zu sehen. Als Letztes den dünnen, eingetrockneten Spuckefaden vom Mundwinkel zum Kinn.
    »Kannst du bitte mit hinaufkommen, Mutter?«
    Das klingt recht beherrscht. Es ist ja auch nicht so, als ob ich noch nie einen toten Menschen gesehen hätte, nicht wahr?
    Auch Mutter ist gefasst. Sie steht einige Sekunden stumm, dann lächelt sie, streicht über die struppige Perücke und sagt: »Gute Reise, Oma Luchterhand. «
    Spricht’s, geht mit der Kerze zu Oma Luchterhands Schrank, nimmt Ausweise und Lebensmittelmarken heraus und lässt sie in ihrer Rocktasche verschwinden!
    Ich starre mit offenem Mund. »Die braucht sie jetzt nicht mehr, Fritzi«, sagt Mutter mit einem Anflug von Nervosität.
    Aha. Plötzlich bin ich also wieder Fritzi! »Versteckst du jemanden?«, frage ich ungläubig.
    »Nein. Dazu fehlt mir der Mut.« Zum ersten Mal an diesem Tag sieht sie mir direkt in die Augen. »Ich versuche auf andere Weise zu helfen. Mit Kleidung, Marken ...«
    »Wem?«
    »Tauchern. U-Booten. Bestimmt hast du das Wort schon gehört. Diese Leute werden weitergereicht, schlafen mal hier, mal dort. Die Papiere von Oma Luchterhand können Leben retten. Ich bin sicher, sie hätte das so gewollt.«
    »Aber das sind doch Juden, Mutter!«, flüstere ich entsetzt. »Juden, Kommunisten, Deserteure ... was heißt das schon? Es sind Freunde von früher oder Freunde von Freunden.«
    »Das kann uns vor Gericht bringen, weißt du das nicht?« »Ach was. Dazu ist mein Beitrag viel zu gering.«
    »Darum ging es also am Telefon ...«
    Sie nickt. »Ich habe jemandem ein Paar Schuhe abgeschwatzt, angeblich für Ausgebombte. Aber ich möchte nicht, dass sie abgeholt werden, solange du hier bist, verstehst du?«
    Ja!, möchte ich spontan sagen. Denn was ich in dieser Sekunde verstehe, ist die knappe Begrüßung, ihr kühles Verhalten, dieser ganze seltsame Tag. Mir will ein Stein vom Herzen fallen: Mutter hat Angst um mich, das ist alles!
    Da fügt sie etwas Unverzeihliches hinzu. Sie sagt: »Du kannst hier nicht bleiben, Fritzi. «
    »... hier nicht bleiben? Das ist mein Zuhause!«
    »Es geht einfach nicht! Die Fliegerangriffe, der ständige Kampf um die paar jämmerlichen Lebensmittel, meine anderen ... Aktivitäten. Und jetzt auch noch du? Das schaffe ich nicht!« Sie hebt resigniert die Hände und lässt sie wieder fallen.
    »Aufhören willst du also nicht. Mit den Aktivitäten, meine ich. Denen sagen, du hast eine Tochter, die du nicht in Gefahr bringen willst ...«
    Gern hätte ich das hart und ärgerlich gesagt, aber meine Stimme entscheidet sich ganz gegen meinen Willen fürs Betteln. Mutter antwortet nicht. Oma Luchterhand sitzt zwischen uns und muss sich das alles anhören.
    »Es sind noch keine dreißig, die du gerettet hast, stimmt’s?«, höre ich mich sagen. »Es fehlen noch ein paar!«
    Sie zischt: »Diese Bemerkung werde ich deinem Vater berichten! « Schlägt auf dem Weg hinaus voll Zorn nach der Sofalehne.
    Mein Vater! Als ob sie es wagen könnte, ihm von dieser Bemerkung zu erzählen!
    Mein Vater mal wieder! In mehreren Tausend Kilometern Entfernung ist er eine große Stütze, und das schon seit fast fünf Jahren. Briefe an Vater sind das Druckmittel schlechthin, besser noch, als wenn er persönlich zu Hause wäre. Wenn Mutter ihm nur die Hälfte all dessen geschrieben hat, was sie Fabian und mirangedroht hat, dann bezweifle ich, dass er überhaupt noch Lust hat zurückzukommen.
    Das Ehepaar mit dem
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