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Eine unbeliebte Frau

Titel: Eine unbeliebte Frau
Autoren: Nele Neuhaus
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bei der Bundestagswahl im September und dem damit verbundenen Umzug des derzeitigen hessischen Justizministers nach Berlin dessen Nachfolge antreten sollte. Bodenstein war fassungslos. Er kannte Hardenbach seit mehr als zwanzig Jahren, hatte in seiner Frankfurter Zeit regelmäßig mit dem Mann, der als überkorrekt und gnadenlos galt, zu tun gehabt.
    »Ja, das bin ich«, sagte Pia Kirchhoff. »Er hat sich mit einem Jagdgewehr in den Mund geschossen.«
    Bodenstein sah Cosima, die mit schnellen Schritten über den Parkplatz auf ihn zukam. Das Frühstück am Flughafen musste zu seinem Bedauern auch ausfallen.
    »Ich bin in einer halben Stunde da«, sagte er zu seiner neuen Kollegin. »Wo finde ich Sie?«
    »Was gibt's?«, erkundigte sich Cosima neugierig, als er das Gespräch beendet hatte. »Ist etwas passiert?«
    »Allerdings«, Bodenstein öffnete ihr die Beifahrertür. »Oberstaatsanwalt Hardenbach hat sich erschossen. Unser Abschiedsfrühstück fällt leider aus.«
    Auf der Fahrt nach Hochheim war Bodenstein schweigsam. Schon unzählige Male war er am Schauplatz von Verbrechen gewesen, hatte Leichen in allen Formen der Verstümmelungund allen Stadien der Verwesung gesehen, aber jedes Mal beschlich ihn dieses eigentümliche Gefühl. Er fragte sich zum wiederholten Mal, ob er eines Tages abgebrüht oder fatalistisch genug sein würde, um nichts mehr dabei zu empfinden, wenn er zum Fundort einer Leiche gerufen wurde.
     
    Pia Kirchhoff sprach gerade mit dem Leiter der Spurensicherung, als sie ihren Chef mit unbewegter Miene den Weg zwischen den Weinstöcken hinunterkommen sah, wie immer korrekt gekleidet von Kopf bis Fuß. Gestreiftes Hemd, Krawatte, heller Leinenanzug. Sie war mehr als gespannt darauf, wie es sein würde, mit ihm gemeinsam an einem Fall zu arbeiten. Bisher hatte sie kaum zehn Sätze mit ihm gewechselt.
    »Guten Morgen«, sagte sie, »es tut mir leid, wenn ich Ihnen den Sonntag verderbe, aber ich dachte, es wäre besser, wenn Sie die Leitung der Ermittlung selbst übernehmen.«
    »Guten Morgen«, erwiderte Bodenstein, »das ist schon in Ordnung. Ist es denn wirklich Hardenbach?«
    Pia war mit knapp eins achtundsiebzig ziemlich groß, aber zu ihrem Chef musste sie aufblicken.
    »Ja«, sie nickte, »zweifellos. Von seinem Gesicht ist zwar nicht mehr viel übrig, aber er hatte seine Brieftasche bei sich.«
    Bodenstein ging weiter, um sich die von einer Ladung Schrot grausam entstellte Leiche des Oberstaatsanwalts anzusehen, die man bereits mit einem Tuch abgedeckt hatte. Beamte von der Spurensicherung waren dabei, den Leichenfundort Zentimeter um Zentimeter zu untersuchen und zu fotografieren.
    »Sind Sie Frau Kirchhoff?«, hörte Pia eine Stimme hinter sich und drehte sich um. Vor ihr stand eine schlanke Rothaarige und blickte sie neugierig an. Pia nickte.
    »Cosima von Bodenstein«, die Frau lächelte und hielt ihr die Hand hin. Pia ergriff sie überrascht.
    »Freut mich, dass wir uns kennenlernen«, sagte sie und fragte sich, was Frau von Bodenstein um diese Uhrzeit am Fundort einer Leiche machte.
    »Mich auch«, erwiderte Cosima von Bodenstein. »Leider muss ich gleich wieder weg. Wir waren gerade auf dem Weg zum Flughafen, als Sie angerufen haben. Meinen Sie, ich kann auch mal kurz einen Blick auf die Leiche werfen?«
    Pia musste sich anstrengen, damit sie die Frau nicht wie eine debile Zwölfjährige mit offenem Mund anstarrte. Offenbar war die Frau ihres Chefs ganz und gar nicht das elegante, vornehme Geschöpf, als das man sie ihr geschildert hatte. Cosima von Bodenstein bemerkte Pias Erstaunen und grinste amüsiert.
    »Ich habe schon jede Menge Leichen gesehen«, erklärte sie. »Früher, als ich noch fest beim Fernsehen war, gehörte das zu meinem täglichen Brot. Blutige Körperteile auf der Autobahn und im Straßengraben verteilt. Einmal habe ich selber den Kopf von einem Toten gefunden, nach einem Motorradunfall oben am Feldberg.«
    Pia war sprachlos.
    »So habe ich übrigens meinen Mann kennengelernt«, verriet Cosima von Bodenstein, »quasi zu Füßen eines Selbstmörders, der sich in seinem Büro aufgehängt hat. Ich war mit meinem Kamerateam da, und mein Mann war ganz frisch bei der Polizei. Es war seine erste Leiche, und er musste sich übergeben. Ich habe ihm ein Kleenex gegeben.«
    Pia unterdrückte ein amüsiertes Grinsen, denn gerade kam ihr Chef zurück.
    »Und?«, fragte seine Frau. »Ist es wirklich Hardenbach?«
    »Ja, leider«, erwiderte Bodenstein und verzog das Gesicht.
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