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Eine Messe für die Stadt Arras

Eine Messe für die Stadt Arras

Titel: Eine Messe für die Stadt Arras
Autoren: Andrzej Szczypiorski
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er, »ist das Wachsen deines Geistes etwas, das an einen unablässigen Kampf gemahnt. Die himmlische Gnade ringt in dir mit den Einflüsterungen der Hölle. Wo also findest du die Bestätigung dafür, daß dein lahmer, von tausend Abhängigkeiten, Einflüssen, Moden, wollüstigen Begierden, Befürchtungen und Launen gefesselter Verstand klarer und erfolgreicher sei in der Erkenntnis der Ratschlüsse Gottes als die Lehre der Kirche? Wir leben in grausamen Zeiten, lieber Jean. Die Menschen wollen keine braven Christen mehr sein; sie nehmen sich ein Beispiel an sittlosen Fürsten und törichten Bischöfen, geben sich absonderlichen Perversitäten hin, suchen die göttliche Gegenwart im alltäglichen Leben und versuchen, die Pläne Gottes auszukundschaften, um ihnen zuvorzukommen. Aber der Herr will nicht, daß sich die Menschen so eifrig um die Erlösung tummeln. Natürlich sehnt sich ein jeder nach ewiger Glückseligkeit, aber soll er doch sein Geschick in die Hände unseres Herrn Jesus Christus legen und ihn nicht vertreten wollen… Jean, vertrau mir! Mein Leben habe ich inmitten von Büchern und Traktaten der allerklügsten Autoren zugebracht. Lächerlich das Ganze! Ich verachte all diese Usurpatoren, die – im Vertrauen auf ihren Verstand – die heilige Kirche retten wollen. Die gewaltigste Kraft der Kirche sind die Sakramente; sie nämlich bilden den schmalen Steg, auf dem sich Gott über den Abgründen des Lebens uns nähert. Mit der Treue zu den Sakramenten wahrst du zugleich Gott die Treue. Er ist dann mit dir, und du bist mit ihm. Wenn er dir Verstand gegeben hat, dann nicht dazu, um nach dem Himmel zu greifen, sondern um zu wissen, wie man sich hinieden bewegen soll.«
    Damals habe ich Albert gefragt, wo denn die Seele ihren Sitz habe, und er hat meine Brust berührt und gesagt, daß dort die Seele, der Hauch Gottes, wohne – die Kraft, dank derer ich mich rege, Hitze und Kälte empfinde, schlafe, esse, spreche und denke. Ich wollte wissen, ob ich dank dieser Kraft auch die Frauen begehre, worauf er zur Antwort gab, daß das ohne Zweifel so sei, weil Gott ganz und gar keine Quälereien vom Menschen fordere; denn Gott ist großmütig und liebt mich und hat folglich die Frau geschaffen, damit ich sie begehren und besitzen kann. »Nur Dummköpfe meinen, daß die Frau ein Gefäß des Satans sei«, fügte er ärgerlich hinzu. »Sie hat eine unsterbliche Seele und einen anmutigen Leib. Wenn der Satan sie geschaffen hätte, wäre sie eine Kröte…«
    Damals erkühnte ich mich, ihn zu fragen, ob die Seele, deren Ansturm ich in meiner Brust fühle, auch allen anderen Geschöpfen gegeben sei. Er aber erwiderte, daß er es nicht für abwegig halte, zu glauben, daß Hund, Katze, Kuh, ja sogar der Esel von Gott mit einer Art heiligem Funken bedacht worden seien, der ihnen zu sein, zu leiden und sich zu freuen erlaube. Für mich war das offene Häresie, und ich bemerkte, daß mir seine Worte mit den Lehren der Kirche nicht übereinzustimmen schienen. Er lächelte sanft.
    »Jean, mein Lieber«, sagte er, »nicht alles, was Gott will, wurde in den Büchern niedergeschrieben, und nicht alles, was Gott will, ist dem Menschen bekannt, selbst wenn dieser Mensch zu den Fürsten der Kirche gehört. Stell dir zum Beispiel vor, daß deine Reitpferde und deine Herden, die auf den Wiesen Brabants weiden, auch ihren Tierhimmel haben! Was ist Schlechtes daran, und wie kann das die christliche Lehre beleidigen? Der heilige Franziskus hat vom Pferd gesagt: ›Mein Bruder Pferd‹, und von der Spinne: ›Meine Schwester Spinne‹. Darf man nicht vermuten, daß der Schöpfer in seiner unbeschreiblichen Gnade und Güte verschiedenerlei Los auf Pferde, Kühe, Ziegen und Lerchen herabgeschickt hat, um sie in Freud und Leid zu erproben? Nur eins ist gewiß, nämlich daß Gott den Menschen nach seinem Bild und Ebenbild geschaffen und ihm auch Verstand verliehen hat – was aus uns die unglücklichsten Wesen unter der Sonne macht. Die göttlichen Forderungen sind gegenüber dem Menschen tausendfach höher als gegenüber der Ratte, was jedoch keineswegs bedeutet, daß die Ratte für alle Zeiten verdammt ist. Wenn du für dich und mich betest, solltest du ein kleines Teil deiner feurigen Empfindungen den Tieren, Bäumen und Sternen weihen, damit auch sie im himmlischen Register aufgezeichnet werden.«
    Albert sprach lange und so hochherzig, daß mir die Tränen übers Gesicht liefen und meine Seele von Dankbarkeit und tiefer Achtung erfüllt
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