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Eine Katze kommt selten allein

Eine Katze kommt selten allein

Titel: Eine Katze kommt selten allein
Autoren: Lydia Adamson
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viel Grau zu sehen. Meine Augenbrauen wurden blasser. Das Gesicht im Spiegel war gelassen. Ich hatte nie verstehen können, warum die Leute mich als schön bezeichneten. Mein Gesicht war zu schmal – zu spitz, wie man zu sagen pflegt. Ich kicherte. Ich zog die Schultern zurück und streckte die Brust raus. Diese Pose hatten die Männer immer besonders anziehend gefunden. O ja, als ich in jungen Jahren in einen Raum gekommen war, hatte ich stets für ziemliches Aufsehen gesorgt. Bühnenpräsenz nennt man so etwas.
    Oben rechts im Spiegel sah ich eine blitzschnelle Bewegung, einen verschwommen Schemen. Dann erkannte ich Panchos Spiegelbild. Er saß oben auf dem Bücherregal, neben den Sammelmappen mit der Tulane-Theaterzeitung . In einer der älteren Ausgaben war ein Bild von mir. Es zeigte mich auf der Bühne, in einem Einakter, der am Long-Wharf-Theater in New Haven gegeben worden war.
    Panchos Spiegelbild beäugte mich.
    Ohne mich umzudrehen, sagte ich: »Du kannst in Ruhe gucken, solange du willst, Pancho.«
    Er reagierte nicht. Sein halber Schwanz bewegte sich nervös auf und ab. Sein Gesicht zeigte Mißtrauen.
    »Ach, Pancho, warum kannst du nicht mal entspannt sein? Kannst du denn nicht spielen wie andere Katzen auch?«
    Keine Reaktion. In diesem Augenblick hatte ich den sehnlichen Wunsch, Pancho in die Arme zu nehmen, doch ich blieb sitzen. Pancho war ein gutes Vorbild. Sein ständiger Argwohn und sein eigenartiges Gespür für Gefahren machten ihn zu einem ausgezeichneten Lehrmeister. Es gibt Menschen und Tiere, die man nur aus der Ferne lieben kann. Körperkontakt ist unmöglich.
    »Lauf, Pancho, lauf«, flüsterte ich seinem Spiegelbild zu. Doch Pancho hob nur ein Bein und leckte es ab. Er würde erst flüchten, wenn er damit fertig war.
    Ich berührte den Spiegel mit den Fingern, ließ sie so langsam über das Glas gleiten wie über die Geldscheine in Jos Stahlkassette.
    Jos Angebot war sehr großzügig gewesen. Zwei Wochen lang zweihundert Dollar pro Tag – das machte zweitausendachthundert Dollar – steuerfrei. Das war sehr viel Katzenfutter. Außerdem kam Jos Angebot zu einem günstigen Zeitpunkt. Die ersten beiden Wochen des neuen Jahres waren stets deprimierend; ich konnte nichts tun, nichts bewegen, da mir die Möglichkeiten fehlten.
    Ein bißchen grimmig lächelte ich mich im Spiegel an. Einer meiner Exliebhaber hatte mal gesagt, mein Lächeln wäre schrecklich, vollkommen unecht. Ich verzog das Gesicht. Es war ärgerlich, aber es stimmte: Ich beurteilte mich häufig nach Maßstäben, die andere Leute mir vorgegeben hatten. Warum glaubte ich ihnen eigentlich? Für solchen Unsinn war ich zu alt.
    Erneut zuckte ein grauer Blitz über den Spiegel. Pancho hatte sich wieder auf den Weg gemacht.
    Ich nahm eine Haarbürste und wog sie in der Hand. Es war eine sehr schöne Bürste aus Perlmutt und mit dünnen, harten Borsten.
    Es wäre die ideale Bürste für das dichte, dicke, üppige Haar des Stallmädchens gewesen. Ginger hatte wundervolles rotes Haar. Als ich an sie dachte, verspürte ich einen ganz kurzen Anflug von Haß. Meine Reaktion war so eigenartig, daß ich aufstand und vom Spiegel fortging. Ich setzte mich aufs Bett.
    Warum hatte ich kein Mitleid mit dem Mädchen, wie ich es für Jo empfand?
    Gingers Trauer war irgendwie… rätselhaft gewesen. Sie hatte geweint wie ein Mensch, der alles verloren hatte. Nein, ich haßte Ginger nicht; das wurde mir klar. Ich war eifersüchtig auf sie.
    Warum? Weil sie und Harry Liebhaber gewesen waren.
    Seufzend erhob ich mich vom Bett, ging auf den Flur, dann wieder zurück ins Schlafzimmer.
    Warum diese Eifersucht? fragte ich mich. Harry war für mich eine Art Ersatzvater gewesen – freundlich, exzentrisch und klug; er hatte mir Trost und Sicherheit gegeben.
    Ersatzvater? Hatte ich wirklich so empfunden? Nein. Ich wollte an Gingers Stelle sein. Ich wollte als Harrys Geliebte um ihn trauern, nicht als Ersatztocher.
    Rasch ging ich den Flur hinunter ins Wohnzimmer. Ich schnappte mir Bushy vom Sofa und drückte ihn an mich. Er ließ die Liebkosung mit stoischer Ruhe über sich ergehen.
    »Bushy!« rief ich seinen Namen. Er schaute an mir vorbei, und ich flüsterte ihm in Ohr: »Du hast die ganze Zeit gewußt, daß ich Jos Angebot annehmen würde, nicht wahr? Du hast es die ganze Zeit gewußt.«
    Ich legte mich aufs Sofa und hielt Bushy an mich gedrückt. Es gab keinen Grund, Jos Angebot auszuschlagen und nicht zum Anwesen der Starobins zu fahren. Sicher, dort
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