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Eine große Zeit

Eine große Zeit

Titel: Eine große Zeit
Autoren: William Boyd
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habe Schnaps getrunken.«
    »Warum verzichtest du nicht ganz aufs Abendessen, so wie Barth? Dann würdest du sie gar nicht zu Gesicht bekommen.«
    »Das Regiment kommt für alle Kosten auf. Nicht ich.«
    Traudl brachte einen Teller mit mehreren Scheiben Schwarzbrot und etwas Streichkäse.
    »Danke, mein Äffchen.«
    Traudl schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich jedoch anders, knickste und ging durch die Hintertür.
    Wolfram beugte sich vor.
    »Lysander – du weißt doch, dass du Traudl besteigen kannst, wenn du ihr zwanzig Kronen gibst?«
    »Besteigen?«
    »Flachlegen.«
    »Im Ernst?« Lysander rechnete schnell nach: Zwanzig Kronen waren nicht einmal ein Pfund.
    »Ich mache es mehrmals wöchentlich. Das Mädchen braucht Geld – und eigentlich ist es ganz nett mit ihr.« Wolfram drückte seine Zigarette im Aschenbecher aus, bestrich eine Brotscheibe mit Käse und fing an zu essen. »Diese süßen großen Landeier haben einige erstaunliche Tricks auf Lager – ich wollte dir bloß Bescheid geben, falls dir mal danach ist.«
    »Danke. Ich behalte es im Hinterkopf«, sagte Lysander etwas perplex. Wie würde Frau K wohl reagieren, wenn sie von diesen Machenschaften erführe? Er würde Traudl jedenfalls von nun an mit anderen Augen sehen.
    »Du wirkst so überrascht«, sagte Wolfram, sein Käsebrot kauend.
    »Das bin ich auch. Ich hatte ja keine Ahnung. Ausgerechnet hier – in dieser Pension. Wie sehr der Schein doch trügt.«
    Wolfram richtete sein Messer auf Lysander.
    »Diese Pension – die Pension Kriwanek – ist genau wie Wien. An der Oberfläche befindet sich die Welt von Frau K. So angenehm und erfreulich, alle lächeln höflich, niemand furzt oder popelt in der Nase. Aber darunter fließt ein dunkler, reißender Strom.«
    »Was für ein Strom?«
    »Der Strom der Lust.«

6. Der Sohn von Halifax Rief
    »Ich bin im Foyer des Majestic Theatre an der Strand. Ich bewege mich durch einen Pulk elegant gekleideter Damen – jüngere und ältere. Sie plaudern und tratschen, ab und an wirft mir eine von ihnen einen Blick zu. Die Damen schenken mir nicht die geringste Beachtung – obwohl ich splitternackt bin.«
    Lysander hielt inne. Gerade las er Dr. Bensimon aus seinen Autobiographischen Untersuchungen vor.
    »Jaaaa … «, sagte Dr. Bensimon bedächtig. »Das ist interessant. Haben Sie das gestern Nacht geträumt?«
    »Ja. Ich habe es umgehend aufgeschrieben.«
    »Aber was hat es mit dem Theater auf sich?«
    »Das liegt auf der Hand«, sagte Lysander. »Es wäre noch viel interessanter, wenn es sich nicht um ein Theater handeln würde.«
    »Ich verstehe nicht ganz.«
    »Ich bin Schauspieler«, erklärte Lysander.
    »Von Beruf?«
    »Ich verdiene meinen Lebensunterhalt auf der Bühne, meistens im Londoner West End.«
    Er hörte Bensimon aufstehen und das Zimmer durchqueren, um sich am Fußende des Diwans zu setzen. Lysander drehte sich im Sessel zur Seite – Bensimon musterte ihn aufmerksam.
    »Rief«, sagte er. »Der Name kam mir gleich so bekannt vor. Sind Sie zufällig mit Halifax Rief verwandt?«
    »Er war mein Vater.«
    »Mein Gott!« Bensimon schien aufrichtig überrascht. »Ich habe ihn als King Lear gesehen, im … Wo war das noch mal?«
    »Im Apollo.«
    »Stimmt, im Apollo … Er ist doch gestorben, nicht wahr? Mitten in der Spielzeit.«
    »’99. Ich war dreizehn.«
    »Gütiger Himmel. Sie sind der Sohn von Halifax Rief. Nicht zu fassen.« Bensimon starrte Lysander an, als sähe er ihn zum ersten Mal. »Ich meine, eine gewisse Ähnlichkeit zu erkennen. Und Sie sind auch noch Schauspieler.«
    »Nicht so erfolgreich wie mein Vater – aber ich kann ganz gut davon leben.«
    »Ich liebe das Theater. In welchem Stück haben Sie zuletzt mitgespielt?«
    »Ein romantisches Ultimatum.«
    »Sagt mir nichts.«
    »Eine Salonkomödie von Kendrick Balston – wurde nach vier Monaten Laufzeit im Shaftesbury abgesetzt. Dann bin ich gleich hierhergekommen.«
    »Gütiger Himmel … «, wiederholte Bensimon und nickte unmerklich, als hätte er gerade eine Offenbarung erlebt. Er ging zu seinem Schreibtisch zurück, und Lysander betrachtete das silberne Flachrelief. Allmählich hatte er das Gefühl, es in- und auswendig zu kennen, obwohl das erst seine zweite Sitzung bei Bensimon war.
    »Sie stehen also nackt im Foyer des Majestic. Sind Sie erregt?«
    »Offenbar fühle ich mich dort ganz wohl. Ich schäme mich nicht, vor diesen Leuten nackt zu sein. Es ist mir nicht peinlich.«
    »Niemand lacht oder kichert, niemand
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