Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Geschichte von Liebe und Feuer

Eine Geschichte von Liebe und Feuer

Titel: Eine Geschichte von Liebe und Feuer
Autoren: Victoria Hislop
Vom Netzwerk:
Mitsos.
    Â»Ja, schon, aber dann würde ich das alles hier verpassen …«
    Er zeigte mit einer ausladenden Geste auf die Bucht, die sich in weitem Halbrund vor ihnen erstreckte, und deutete dann geradeaus auf die schneebedeckten Berge, die sich in etwa hundert Kilometern Entfernung jenseits des Meeres erhoben.
    Â»Der Olymp. Die ständig sich verändernde See. Die Tanker. Die Fischerboote. Ich weiß, Sie denken, ich kann das alles nicht sehen, aber früher einmal konnte ich es. Ich weiß, dass sie da sind, ich sehe sie vor meinem inneren Auge, und das wird immer so sein. Außerdem sehe ich nicht das Gleiche wie Sie. Schließen Sie doch mal die Augen.«
    Der junge Mann nahm Mitsos’ Hand und hielt sie fest. Mitsos war überrascht von der marmornen Kühle seiner Finger und dankbar für den körperlichen Kontakt. Plötzlich spürte er, wie es wäre, als einsamer, verletzlicher Mensch auf der geschäftigen Esplanade zu stehen.
    Und in dem Moment, als er nichts mehr sah, schärften sich seine Sinne. Laute Geräusche verstärkten sich zu ohrenbetäubendem Dröhnen, und die stechende Sonne auf seinem Kopf machte ihn schwindelig.
    Â»Bleiben Sie so«, bat ihn der blinde Mann, als er Mitsos’ Hand kurz losließ. »Bloß ein paar Minuten.«
    Â»Ja, aber es ist beängstigend, wie intensiv alles ist. Ich versuche, mich daran zu gewöhnen. Aber ich fühle mich plötzlich wie ausgesetzt auf dieser belebten Straße.«
    Ohne die Augen zu öffnen, konnte Mitsos allein aus dem Tonfall seines Gegenübers schließen, dass er lächelte.
    Â»Nur noch einen Moment. Dann werden Sie noch viel mehr spüren …«
    Er hatte recht.
    Der Geruch des Meeres, die Feuchtigkeit der Luft auf seiner Haut, der rhythmische Schlag der Wellen gegen die Ufermauer, alles wirkte mit einem Mal viel intensiver.
    Â»Und dann stellen Sie fest, dass es jeden Tag anders ist. Wirklich jeden Tag. Im Sommer ist die Luft so still und das Wasser so glatt wie Öl. Und ich weiß, dass die Berge im Dunst verschwinden. Die Hitze wird von den Steinen reflektiert, und ich spüre sie durch die Sohlen meiner Schuhe.«
    Beide Männer standen da, die Gesichter zum Meer gerichtet. »Ich spüre Menschen um mich«, fuhr der Blinde fort. »Nicht bloß Leute wie Sie, die hier und jetzt leben, sondern auch solche aus vergangenen Zeiten. Dieser Ort ist angefüllt mit seiner Geschichte, er wimmelt von Menschen – und die sind genauso real wie Sie. Ich sehe gleichzeitig die Vergangenheit und die Gegenwart. Verstehen Sie das? Ergibt das einen Sinn?«
    Â»Ja, das tut es, sicher.«
    Mitsos wollte sich nicht einfach abwenden und weggehen, obwohl der junge Mann es vielleicht gar nicht mitbekommen hätte. In diesen wenigen Minuten waren seine Sinne wachgerüttelt worden. Im Philosophieunterricht hatte er gelernt, dass nicht nur die sichtbaren Dinge eine Realität haben, aber dies war eine ganz neue Erfahrung zu dem Thema.
    Â»Ich heiße Pavlos«, sagte der blinde Mann.
    Â»Und ich Dimitri – oder Mitsos.«
    Â»Ich liebe diesen Ort«, sagte Pavlos. Man hörte seiner Stimme an, dass die Worte von Herzen kamen. »Vermutlich gibt es Plätze, an denen das Leben für einen Blinden leichter wäre, aber ich möchte nirgendwo anders sein.«
    Â»Ja, das kann ich gut verstehen. Es ist wirklich eine wunderschöne Stadt«, stimmte Mitsos ihm zu. »Hören Sie … ich muss jetzt wieder zu meinen Großeltern zurück. Aber es war schön, Sie kennengelernt zu haben.«
    Â»Ich freue mich auch, dass wir uns begegnet sind. Und danke, dass Sie mir geholfen haben.«
    Pavlos wandte sich ab und klopfte beim Gehen wieder mit seinem dünnen weißen Stock aufs Pflaster. Mitsos sah ihm eine Weile nach. Er war sicher, dass der blinde Mann die Wärme seines Blicks im Rücken spürte. Das hoffte er zumindest und unterdrückte den spontanen Wunsch, ihm nachzueilen, ihn auf seinem Spaziergang zu begleiten und sich noch ein wenig mit ihm zu unterhalten. Vielleicht ein anderes Mal …
    Ich liebe diesen Ort – diese Worte hallten in ihm nach.
    Sichtlich bewegt von der Begegnung, kehrte Mitsos zu dem Kaffeehaustisch zurück.
    Â»Es war nett von dir, dem jungen Mann zu helfen«, sagte sein Großvater. »Wir sehen ihn oft, wenn wir draußen sind, und schon ein paarmal wäre ihm beinahe etwas passiert auf dieser
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher