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Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman

Titel: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman
Autoren: Wilhelm Genazino
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Das Kratzen ihrer Krallen im Blech der Rinne tönte bis zur Bühne herüber. Es waren zwei beiläufige Bemerkungen, durch die Linda und ich erstmals aufeinander aufmerksam wurden. Linda war eine der drei Journalistinnen, mit denen ich an einem Pressetisch saß. Meine Bemerkung galt einem Redner, der wenig später ein Glas Wasser auf dem Pult abstellte und zu reden anfing. Er hatte ein dreieckiges, spitz nach unten zulaufendes Gesicht und stark abstehende Fledermausohren. Es war ein typisches Nachkriegsgesicht: grau, einsam, mager, faltig. Ich betrachtete den Mann eine Weile und sagte dann mehr zu mir selber als zu den drei Frauen: Der sieht aus wie ein Bruder von Franz Kafka. Linda hatte die Bemerkung aber doch gehört. Sie nahm den Programmzettel der Maifeier in die Hand und sagte dann leise zu mir: Er heißt aber leider nicht Ludwig oder Friedrich Kafka, sondern er heißt Albert Mußgnug und ist zweiter Vorsitzender der IG Chemie. Ich unterbrach meine Mitschrift und lachte Linda an. Aus ihrer Bemerkung schloß ich, daß sich Linda in der literarischen Welt auskannte. Es leuchtete in diesen Augenblicken die Möglichkeit auf, daß ich soeben zum ersten Mal auf einen Menschen gestoßen war, der von der Literatur ähnlich stark gesteuert wurde wie ich. Ich hätte gern sofort mit Linda geredet, aber wir mußten beide aufpassen, was Albert Mußgnug zu sagen hatte. Ich spintisierte noch eine Weile meine Vorstellung aus, daß sich ein bisher geheimgehaltener Bruder von Franz Kafka in unsere Gegend durchgeschlagen hätte und sich unter dem Namen Albert Mußgnug in der IG Chemie betätigte. Obwohl ich Linda noch nicht kannte, war ich schon sicher, daß sie an dieser Idee ebenso großes Vergnügen gefunden hätte wie ich. Gegen 12.30 Uhr ging die Maifeier zu Ende. Ich hatte fast einen ganzen Stenoblock vollgeschrieben und fühlte mich erschöpft und leer. Ich verabschiedete mich von den drei Journalistinnen. Ich war sicher, daß ich Linda früher oder später bei einem neuen Termin wiedersehen würde. Linda war groß und hatte eine weiche Hand. Sie war blond und blaß und ungeschminkt. Sie trug einen hellen Pulli und einen karierten Faltenrock und flache Schuhe.
    Unverzüglich machte ich mich auf den Weg in die Redaktion. Herrdegen räumte einen Schreibtisch leer, der bisher als Ablagefläche gedient hatte. Zum ersten Mal schrieb ich in einer Redaktion. Zusammen mit den Kitschpfützen sollte ich fünf bis sechs Seiten schreiben. Kurz nach 15.00 Uhr traf Frau Kremer ein und lieferte zweieinhalb Blatt über die Renovierung des Melanchthon-Gemeindehauses ab. Frau Kremer war eine ältliche, verdrießliche, dabei höfliche Frau, die in der Redaktion für Kirchenangelegenheiten, Kindergärten, Krankenhäuser und das Schulwesen zuständig war. Herrdegen redigierte ihren Artikel und trug ihn persönlich in die Setzerei. Im Türrahmen traf er mit dem Redakteur Wettengel zusammen, der eine scharfe Glosse gegen die SPD-Fraktion ankündigte. Kurz darauf erschien ein zappeliger Mann in einem beigefarbenen Anzug. Er war etwa vierzig Jahre alt und hatte ein schweißiges Gesicht. Mir fiel auf, daß Herrdegen ihn angespannt beobachtete. Dann stellte er uns vor. Das ist Herr Weigand (das war ich), ein junger Kollege, und das ist Herr Angelmaier, ein freier Mitarbeiter. Angelmaier verbeugte sich und gab mir die Hand. Er legte ein Manuskript auf Herrdegens Schreibtisch und sagte: Ich habe etwas geschrieben über die Neubepflanzung der Grünanlage vor dem Hauptbahnhof. Ich schau es mir an, sagte Herrdegen kühl.
    Herrdegen wartete, bis Angelmaier den Raum verlassen hatte, dann warnte er mich vor ihm. Ich schaute von meiner Schreibmaschine auf. Angelmaier war fünfzehn Jahre lang Redakteur bei uns gewesen, sagte Herrdegen, aber dann wurde bekannt, daß er korrupt ist. In seiner Wohnung sind haufenweise Möbel, Teppiche, Lampen, Spiegel und andere Sachen gefunden worden, die er sich hat schenken lassen. Angelmaier hat in seine Artikel jahrelang die Namen von Kaufhäusern, Autohändlern, Metallfabriken oder Reisebüros eingeschmuggelt. Herrdegen ging zu seinem Schreibtisch, zog die Schublade auf und holte einen Zeitungsausschnitt heraus. Ich lese Ihnen vor, wie sich das anhörte, sagte Herrdegen. Und er las: An der Ecke von Möbelhaus Schwertfeger und der Miederfabrik Gloria kam es am Donnerstag abend zu einem folgenschweren Unfall. Daß wir das nicht früher gemerkt haben! rief Herrdegen aus. Er kratzte sich und sah mich an. Vermutlich erkannte er,
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