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Eine bezaubernde Erbin

Eine bezaubernde Erbin

Titel: Eine bezaubernde Erbin
Autoren: Sherry Thomas
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solche Abgeklärtheit nicht ausgereicht, war er zudem groß gewachsen, stattlich gebaut und im klassischen Sinne gutaussehend. Er glitt mit der Kraft und Unverwüstlichkeit eines Panzerschiffes durch das Leben, verfügte über ein sicheres Auftreten und war sich seiner Ziele wohl bewusst.
    Sein erster flüchtiger Blick auf Venetia Fitzhugh Townsend bestätigte ihn nur noch mehr in dieser Gewissheit.
    Das alljährliche Kricketspiel zwischen Eton und Harrow, ein Höhepunkt der Londoner Saison, war gerade für den Nachmittagstee der Spieler unterbrochen worden. Christian verließ den Harrow-Mannschaftspavillon, um mit seiner Stiefmutter zu sprechen – die, jüngst von ihrer Hochzeitsreise mit ihrem neuen Ehemann zurückgekehrt, genau genommen nicht länger seine Stiefmutter war.
    Christians Vater, der verstorbene Herzog, war eine Enttäuschung für alle gewesen, da er so aufgeblasen wie lasterhaft gewesen war. Er hatte jedoch bei der Wahl seiner Ehefrauen eine glückliche Hand bewiesen. Christians Mutter, die zu früh gestorben war, als dass er sich noch an sie erinnern konnte, war allen Erzählungen zufolge eine wahre Heilige gewesen. Seine Stiefmutter hingegen, die nur wenig später in sein Leben getreten war, hatte sich als verlässliche Freundin und treue Verbündete erwiesen.
    Vorhin, mitten im Spiel hatte er die verwitwete Herzogin gesehen. Aber jetzt stand sie nicht länger an derselben Stelle. Als er mit den Augen den gegenüberliegenden Rand des Spielfeldes absuchte, blieb sein Blick kurz an einer jungen Frau hängen.
    Sie saß im hinteren Teil einer offenen Kutsche und verbarg ihr Gähnen anmutig hinter vorgehaltenem Fächer. Ihre Körperhaltung war entspannt, als hätte sie sich heimlich des Korsetts entledigt, das andere Damen zwang, steif wie Statuen dazusitzen. Wodurch sie sich allerdings wirklich von den anderen abhob, war ihr Hut – ein Krönchen aus apricotfarbenen Federn, das ihn an die Seeanemonen erinnerte, die ihn in seiner Kindheit so fasziniert hatten.
    Sie klappte ihren Fächer zusammen, und er vergaß die Seeanemonen vollkommen.
    Ihr Gesicht … Ihm stockte der Atem. Nie zuvor hatte er so strahlende, makellose Schönheit gesehen. Sie war keine Verlockung, sondern Verheißung, wie der Anblick der rettenden Küste für einen Schiffbrüchigen, und er, der sich seit seinem sechsten Lebensjahr auf keinem gekenterten Schiff mehr befunden hatte – und damals hatte es sich lediglich um ein umgekipptes Paddelboot gehandelt – fühlte sich plötzlich, als sei er sein Leben lang hilflos im Meer getrieben.
    Jemand sprach ihn an. Er verstand kein einziges Wort.
    Ihre Schönheit hatte etwas Urgewaltiges, wie eine turmhohe Gewitterwolke, eine dräuende Lawine oder ein bengalischer Tiger, der durch den dunklen Dschungel pirschte. Eine Erscheinung von unterschwelliger Bedrohlichkeit und zugleich überwältigender Vollkommenheit.
    Er spürte einen stechenden, süßen Schmerz in der Brust: Sein Leben würde ohne sie nie mehr vollständig sein. Er hatte jedoch keine Angst, verspürte nur Begeisterung, Staunen und Verlangen.
    „Wer ist das?“, fragte er niemand Bestimmten.
    „Das ist Mrs Townsend“, antwortete niemand Bestimmtes.
    „Sie ist ein bisschen zu jung, um Witwe zu sein“, sagte er.
    Die Arroganz dieser Äußerung würde ihn in den kommenden Jahren noch lange erstaunen – dass er hörte, wie jemand sie Mrs Townsend nannte und er augenblicklich davon ausging, dass ihr Mann tot war. Dass er wie selbstverständlich davon ausging, dass nichts seinem Willen im Weg stehen konnte.
    „Sie ist nicht verwitwet“, unterrichtete man ihn. „Sie ist tatsächlich voll und ganz verheiratet.“
    Ihm war niemand aufgefallen, der sie begleitete. Sie erschien ihm wie auf einer Bühne, allein und mitten im Rampenlicht. Nun aber sah er, dass sie von Menschen umgeben war. Ihre Hand ruhte leicht auf dem Arm eines Mannes. Ihr Gesicht war diesem Mann zugewandt, und wenn er sprach, lächelte sie.
    Christian hatte sich immer für etwas Besonderes gehalten. Nun war er nur ein ganz gewöhnlicher Mann, der sich nach etwas verzehrte und sehnte, ohne das Verlangen seines Herzens je stillen zu können.
    „Du hast dich heute ganz schön zur Schau gestellt“, bemerkte Tony.
    Venetia klammerte sich an den Halteriemen. Der geschlossene Einspänner bewegte sich langsam durch Londons verstopfte Straßen, es war eigentlich nicht nötig, sich überhaupt irgendwo festzuhalten. Doch sie schien die Hände nicht von den Lederstreifen
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