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Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
Autoren: Carlos Castaneda
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Möglichkeit zu geben, mich zu ändern?«
»Nein, ich versuche nicht, dich zu ändern. Es mag sein, daß du eines Tages ein Wissender sein wirst — wer kann das wissen? —, aber das wird dich nicht verändern. Eines Tages wirst du vielleicht imstande sein, die Menschen auf eine andere Weise zu sehen, und dann wirst du erkennen, daß es unmöglich ist, irgend etwas an ihnen zu verändern.«
    »Was ist diese andere Weise, die Menschen zu sehen, Don Juan?«
    »Die Menschen sehen anders aus, wenn du siehst. Der kleine Rauch wird dir helfen,
    die Menschen als Lichtfasern zu sehen.«
»Lichtfasern?«
    »Ja. Fasern, wie weiße Spinnenweben. Sehr feine Fäden, die zwischen Kopf und Nabel kreisen. Dann sieht ein Mensch aus wie ein Ei aus kreisenden Fasern. Und seine Arme und Beine sind wie leuchtende Borsten, die in alle Richtungen abstehen.«
»Sieht jeder so aus?«
    »Jeder. Außerdem steht jeder Mensch mit allen anderen Dingen in Berührung, doch nicht durch seine Hände, sondern durch ein Büschel langer Fasern, die aus dem Mittelpunkt seines Leibes sprießen. Diese Fasern verbinden den Menschen mit seiner Umgebung. Sie halten ihn im Gleichgewicht. Sie geben ihm Stabilität. Daher ist der Mensch, wie du vielleicht eines Tages sehen wirst, gleich ob Bettler oder König, ein leuchtendes Ei, und es ist unmöglich, irgend etwas an ihm zu verändern; oder anders, was könnte an diesem leuchtenden Ei verändert werden? Was?«
    Mein Besuch bei Don Juan leitete einen neuen Zyklus ein. Es fiel mir nicht schwer, mich wieder in meine alte Bereitschaft zurückzuversetzen, sein Gefühl für Dramatik, seinen Humor und die Geduld, die er für mich aufbrachte, zu genießen. Ich war mir darüber im klaren, daß ich ihn häufiger besuchen mußte. Don Juan nicht zu sehen, war für mich ein großer Verlust; außerdem interessierte mich eine besondere Frage, die ich mit ihm erörtern wollte.
    Nachdem ich das Buch über seine Lehren beendet hatte, nahm ich mir noch einmal jenen Teil meiner Feldnotizen vor, die ich nicht ausgewertet hatte. Denn einen Großteil der Informationen hatte ich unberücksichtigt gelassen, weil ich mich zunächst vor allem mit den Zuständen der anderen Realität befaßte. Bei der Durchsicht meiner alter Notizen war ich nun zu dem Schluß gekommen, daß ein geschickter Zauberer bei seinem Schüler allein durch »Manipulation sozialer Anspielungen« höchst spezialisierte Wahrnehmungsbereiche aktivieren konnte. Meine ganze Beweisführung hinsichtlich der Art dieser Manipulation beruhte auf der Annahme, daß es eines Führers bedurfte, um den gewünschten Wahrnehmungsbereich zu aktivieren. Als spezifischer Testfall dienten mir die Peyotetreffen der Zauberer. Ich behauptete, daß die Zauberer bei diesen Zusammenkünften ohne offenen Austausch von Worten oder Gebärden eine Übereinkunft über das Wesen der Realität erreichten, und daraus schloß ich, daß die Beteiligten einen sehr differenzierten Code benutzten, um eine solche Übereinstimmung zu erzielen. Ich hatte ein kompliziertes System aufgestellt, um den Code und die Verfahren zu erklären, daher kehrte ich zu Don Juan zurück, um seine Meinung darüber zu hören und ihn um Rat bei meiner Arbeit zu bitten.
21. Mai 1968
    Auf meiner Fahrt zu Don Juan ereignete sich nichts Ungewöhnliches. Die Temperatur in der Wüste lag um 40 Grad Celsius und war recht unangenehm. Am Spätnachmittag ließ die Hitze nach, und als ich am frühen Abend sein Haus erreichte, wehte eine kühle Brise. Ich war nicht sehr müde, und so saßen wir in seinem Zimmer und sprachen miteinander. Ich fühlte mich wohl und war entspannt. Wir unterhielten uns viele Stunden lang. Es war keine Unterhaltung, die ich gern protokolliert hätte; ich gab mir keine Mühe, besonders wichtige oder schwerwiegende Dinge zu besprechen. Wir redeten über das Wetter, die Ernte, seinen Enkel, die
    Yaqui-Indianer und die mexikanische Regierung. Ich sagte Don Juan, wieviel Vergnügen es mir machte, im Dunkeln dazusitzen und zu reden. Er sagte, das entspreche meinem gesprächigen Wesen; ich müsse so eine Plauderei im Finstern einfach schön finden, weil ich in einer solchen Situation gar nichts anderes tun könne als zu plaudern. Ich wandte ein, daß es mehr als nur das Reden selbst sei, was mich beglückte. Ich sagte, daß mir die beruhigende Wärme der Finsternis um uns her guttat. Er fragte mich, was ich zu Hause machte, wenn es dunkel ist. Ich sagte, ich würde stets das Licht einschalten oder auf die
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