Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan

Titel: Eine andere Wirklichkeit. Neue Gespräche mit Don Juan
Autoren: Carlos Castaneda
Vom Netzwerk:
vertraulichem Ton sagte er, daß ich alles klar und ersichtlich vor Augen hätte und doch würde ich am Schluß immer wieder von meinem Wahn geblendet. »Da gibt es nichts zu verstehen. Verstehen ist nur eine unbedeutende Sache, ach so unbedeutend«, sagte er. In dem Moment stand Don Genaro auf. Er warf Don Juan einen schnellen Blick zu; ihre Augen trafen sich und Don Juan sah wieder zu Boden. Don Genaro stand vor mir und begann, seine Arme zu beiden Seiten gleichzeitig vor und zurück zu schwingen.
    »Schau, kleiner Carlos«, sagte er. »Schau! Schau!« Er machte ein außerordentlich scharfes, schwirrendes Geräusch. Es klang, als würde etwas reißen. Genau in dem Moment, als ich das Geräusch vernahm, hatte ich ein Gefühl der Leere im Unterleib. Es war ein furchtbar peinigendes Gefühl des Fallens, nicht schmerzhaft, aber recht unangenehm und aufreibend. Es dauerte ein paar Sekunden und klang dann ab, wobei es ein seltsames Jucken in meinen Knien zurückließ. Aber solange dieses Gefühl anhielt, nahm ich ein anderes unglaubliches Phänomen wahr. Ich sah Don Genaro auf dem Gipfel eines Gebirges, das vielleicht zehn Meilen entfernt war. Die Erscheinung dauerte nur wenige Sekunden und trat so unerwartet auf, daß ich nicht die Zeit hatte, sie genauer zu überprüfen. Ich kann mich nicht erinnern, ob ich eine Figur in Menschengröße oder ein verkleinertes Abbild Don Genaros auf dem Berggipfel hatte stehen sehen. Ich kann mich nicht mal erinnern, ob es Don Genaro war oder nicht. Doch in jenem Augenblick selbst war ich ohne jeden Zweifel sicher, daß ich ihn auf dem Berggipfel stehen sah. Kaum kam mir jedoch der Gedanke, daß ich unmöglich einen Menschen über zehn Meilen Entfernung sehen konnte, da verschwand die Erscheinung. Ich drehte mich um und suchte Don Genaro, aber er war nicht da. Meine Verwirrung war so ungewöhnlich wie alles andere, was mir geschah. Diese Belastung war zuviel für meinen Verstand. Ich war vollkommen desorientiert. Don Juan stand auf und ließ mich den unteren Teil meines Leibes mit den Händen bedecken und meine Knie in hockender Stellung fest gegen den Körper drücken. Wir saßen eine Weile schweigend beisammen, und dann sagte er, daß er von nun an wirklich aufhören wollte, mir etwas zu erklären, weil man nur durch Handeln ein Zauberer werden könne. Er riet mir, sofort abzufahren, denn sonst würde Don Genaro mich bei seinem Versuch, mir zu helfen, wahrscheinlich töten. »Du wirst deine Richtung ändern«, sagte er, »und du wirst deine Fesseln sprengen.« Er sagte, daß es an seinen oder Don Genaros Handlungen nichts zu verstehen gab und daß Zauberer eben außerordentliche Taten vollbringen konnten. »Genaro und ich, wir handeln von hier aus«, sagte er und deutete auf eines der Strahlenzentren seiner Zeichnung. »Und es ist nicht das Zentrum des Verstehens, aber du weißt, was es ist.«
    Ich wollte sagen, daß ich nicht ganz verstünde, worüber er sprach, aber er ließ mir  keine Zeit dazu, stand auf und gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Er ging sehr schnell, und in kürzester Zeit geriet ich außer Atem, kam ins Schwitzen, als ich versuchte, mit ihm Schritt zu halten.
    Als wir ins Auto stiegen, sah ich mich nach Don Genaro um.
    »Wo ist er?« fragte ich. »Du weißt, wo er ist«, fuhr Don Juan mich an.
    Bevor ich abfuhr, setzte ich mich neben ihn, wie ich es immer mache. Ich hatte ein  überwältigendes Verlangen, ihn um Erklärungen zu bitten. Wie Don Juan sagt, sind Erklärungen meine Leidenschaft.
    »Wo ist Don Genaro?« fragte ich vorsichtig. »Du weißt, wo er ist«, sagte er. »Aber du versagst jedesmal zu verstehen, weil du darauf beharrst. Gestern abend zum Beispiel wußtest du, daß Genaro die ganze Zeit hinter dir war; du hast dich sogar umgedreht und ihn gesehen.«
»Nein«, protestierte ich. »Nein, das wußte ich nicht.« Das meinte ich aufrichtig. Mein Verstand weigerte sich, solche Sinnesreize als »real« aufzufassen, und doch: nach zehn Jahren der Lehrzeit bei Don Juan konnte mein Verstand nicht mehr die alten Kriterien dessen, was real ist, aufrechterhalten. All die Spekulationen, die ich bis dahin über das Wesen der Realität angestellt hatte, waren jedoch reine intellektuelle Spielereien gewesen; der Beweis dafür war, daß mein Verstand unter dem Druck Don Juans und Don Genaros Handlungen in eine Sackgasse geraten war.
    Don Juan sah mich an, und in seinen Augen lag so viel Traurigkeit, daß ich zu weinen begann. Die Tränen flössen ungehemmt. Zum
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher