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Ein Winter mit Baudelaire

Ein Winter mit Baudelaire

Titel: Ein Winter mit Baudelaire
Autoren: Harold Cobert
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ungefähr fünfzig ehemalige Dienstmädchenzimmer im 19. Arrondissement gehörten, die sie ausschließlich an ausländische Studenten oder Sozialhilfeempfänger vermietete. Als Witwe eines reichen Industriellen hatte sie einen Teil ihres Vermögens in kleine Immobilienanlagen investiert, bei denen sie sich auf einen schnellen, regelmäßigen Ertrag verlassen konnte.
    »Aber sicher doch!«, hatte sie ausgerufen, als sie Fatimas und Bébères verdutzte Gesichter sah. »Es gibt nichts Besseres als Sozialhilfeempfänger! Das Amt überweist mir direkt deren Wohngeld, das ziemlich genau der Miete entspricht, die ich für meine Zimmer nehme. Zwanzig Jahre mache ich jetzt schon in Sozialhilfe, noch nie eine verspätete Zahlung, nicht eine einzige! Pünktlich zum 5. jeden Monats, präzise wie ein Schweizer Uhrwerk …«
    »Und was ist mit jemandem, der gerade wieder Arbeit gefunden hat, jetzt aber noch Sozialhilfeempfänger ist hatte Bébère sie geistesgegenwärtig gefragt.
    »Kommt drauf an«, erwiderte die Frau, bei der das Wort
    »Arbeit« sofort einen gewissen Argwohn erregt hatte. »Ich hätte da was, das in der letzten Maiwoche frei wird. noch Sozialhilfeempfänger, sagen Sie?«
    Bébère hatte sich entschuldigt und war in der Küche verschwunden, um Philippe anzurufen.
    »Rück sofort hier an!«
    Philippe war so schnell wie möglich gekommen.DieVorstellung, dass er bald wieder arbeiten und die Sozialhilfe verlieren würde, missfiel seiner potenziellen Vermieterin zunächst, aber dann war sie angesichts von Baudelaire und seinen charmanten Faxen buchstäblich dahingeschmolzen.
    »Ich habe zu Hause sieben davon!«, hatte sie verkündet.
    Daraufhin hatte ihr Philippe von Baudelaires Strahlentherapie erzählt, die den Zustand seines Fells erklärte.
    »In Ordnung«, hatte sie schließlich gesagt, während sich vom Tisch erhob. »Sie haben das Zimmer. Hier meine Karte.«
    Philippe hatte sie genommen und auch die ausgestreckte Hand geschüttelt.
    »Ich bin Madame Daubarot, aber eigentlich heiße ich überall nur ›die Chefin‹!«
    An diesem Nachmittag sind alle gekommen, um Philippe beim Einzug zu helfen: Ahmed, Mouloud, Bébère und Fatima. Die beiden haben ihm ein altes Bettgestell und Möbel geschenkt, die bei ihnen im Keller doch nur herumstanden. Ahmed und Mouloud haben ihm eine Matratze und einen Kühlschrank besorgt, diesmal Ware, die von Gott weiß was gepurzelt ist, sowie einen Kasten Champagner, damit sie noch an diesem Abend den Einzug in die neue Bleibe feiern können. Die Junihitze hat sich wie eine bleierne Haube über die Stadt gelegt. Die Auf- und Abstiege – siebter Stock ohne Aufzug – werden schwitzend und gut gelaunt bewältigt, auch wenn sie dabei regelmäßig über Baudelaire hinwegsteigen müssen, der ihnen unentwegt auf den Fersen ist. Seit zwei Wochen nimmt er wieder zu, und sein Fell beginnt nachzuwachsen.
    Als er, während das Bettgestell hochgehievt wird, zwischen mehreren Beinen hindurchschlüpfen will, bleibt er schlagartig stehen, dreht den Kopf nach links und nach rechts, hebt und senkt ihn einmal und fällt leblos um.

Flur zum Tod
    Baudelaire ist wieder zu sich gekommen. Philippe und Bébère beugen sich über den Tisch, auf dem er liegt, sie halten und streicheln ihm den Kopf. Der junge Tierarzt hat gerade eine Punktion gemacht.
    »Das hatte ich befürchtet«, sagt er.
    Noch nie hat Bébères alter Fiat Paris so schnell durchquert, um nach Maisons-Alfort zu gelangen.
    »Was ist denn los?«, fragt Philippe.
    »Blut im Magen und Darm«, antwortet der Arzt. »Deshalb hat er auch zugenommen.«
    »Und was bedeutet das?«, stammelt Bébère.
    »Die Besserung, die nach der Strahlenbehandlung eingetreten ist, war nicht von Dauer. Der Krebs hat bereits Metastasen gebildet und auf Milz und Leber übergegriffen.«
    Schweigen. Der Arzt sieht Philippe und Bébère an.
    »Entweder wir geben ihm jetzt ein Medikament, das die inneren Blutungen stoppt, oder wir öffnen den Bauchraum, um zu sehen, wie weit der Krebs fortgeschritten ist und ob noch Zeit ist, den Tumor operativ zu entfernen. Aber …«
    »Aber?«, unterbricht ihn Philippe.
    »Es ist eine riskante Operation. Es kann passieren, dass Baudelaire nicht mehr aus der Narkose aufwacht.«
    Stumme Blickwechsel.
    »Die Entscheidung liegt natürlich bei Ihnen«, fügt der Tierarzt hinzu.
    Philippe lässt Baudelaire los und geht mit einer Hand vor dem Mund durch den Raum. Draußen in den Bäumen rauschen die Blätter. Licht und Sommer haben einen
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