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Ein unerhörtes Angebot

Ein unerhörtes Angebot

Titel: Ein unerhörtes Angebot
Autoren: MARY BRENDAN
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in einer feinen Gegend zu wohnen, als ein behaglicheres Leben zu führen.“
    „Das ist nicht wahr!“, rief Helen aufgebracht. „Westlea House ist unser Zuhause. Du weißt, dass es liebe Erinnerungen an unsere Eltern birgt. Wie kannst du so grausam sein, zu behaupten, wir versuchten, den Schein zu wahren?“
    George sagte nichts, sondern drehte Helen den Rücken zu. Sie machte sich allerdings keine Hoffnungen. Er wandte das Gesicht nicht von ihr ab, weil er sich seiner Worte schämte, sondern weil er nach einer Ausrede suchte, die rechtfertigen würde, warum Charlotte und sie ihr Erbteil nicht bekommen konnten.
    Helen spürte, wie jede Kraft sie verließ. Sie war müde und hungrig und wollte nach Hause. George grübelte noch darüber nach, wie er sie loswerden könnte, ohne ihr etwas zu versprechen, da verließ sie schon leise den Raum.
    „Werden wir unser Geld bekommen?“
    Helen war gerade dabei, den Hut abzunehmen, als ihre jüngere Schwester auf sie zutrat. Helen zögerte kurz und schüttelte dann matt den Kopf.
    Charlotte kaute an ihrer Unterlippe. „Er will uns überhaupt nichts geben?“
    Sie sagte es mit so zitternder, leiser Stimme, dass Helens Wut von Neuem erwachte. Trotzdem zwang sie sich zu einem Lächeln. „Ich glaube … ich hoffe, er überlegt gerade, wie viel er entbehren kann“, antwortete sie schließlich ruhig. „Ich bin sicher, dass er selbst in Schwierigkeiten ist. Iris war wieder von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Und ihr Kleid sah sehr französisch und sehr kostspielig aus.“
    „Aber es ist unser Geld!“, rief Charlotte und stampfte mit dem zierlichen Fuß auf. „Ich kann mir noch nicht einmal Handschuhe leisten, und sie kauft sich ständig die teuersten Kleider! Wie wagt sie es, sich auf unsere Kosten so aufzuputzen!“
    „Sie wagt es, weil unser Bruder es ihr erlaubt“, antwortete Helen trocken.
    „George würde niemals unser Zuhause veräußern, um ihre Schneiderin zu bezahlen. Es kann doch unmöglich unser Westlea House sein, das in der ‚Gazette‘ zum Verkauf steht … oder?“
    Helen hätte ihr gern eine beruhigende Antwort gegeben, konnte jedoch nur mit den Schultern zucken und Charlotte in den Salon vorausgehen.
    Die kleine Flamme im Kamin zog sie an wie ein Magnet. Sie blieb vor dem schwachen Feuerchen stehen und hielt geistesabwesend die Hände der Wärme entgegen, während sie sich im Raum umsah. Sie verstand sehr wohl, warum ihr Bruder Westlea House verkaufen wollte. Es war zwar eher spartanisch möbliert und hätte neue Tapeten und einen frischen Anstrich vertragen, aber es war ein reizendes Anwesen und am Rande von Mayfair in einer der besten Gegenden der Stadt gelegen. Ihre Nachbarn gehörten ausnahmslos zur vornehmen Gesellschaft.
    Als ihr verwitweter Vater noch am Leben gewesen war, hatte auch ihre Familie im besten Ruf gestanden, denn Colonel Kingston wurde von allen geschätzt und respektiert, die ihn kannten. Er zählte Gentlemen jeden Ranges zu seinen Freunden, von Mitgliedern des Hochadels bis zu niedrigen Armeeoffizieren. Durch ihren Vater hatte Helen auch Harry Marlowe kennengelernt. Falls Colonel Kingston enttäuscht gewesen war, dass seine ältere Tochter den Antrag eines mittellosen Armeearztes annahm, so hatte er es sich jedenfalls nicht anmerken lassen. Die Ehe war mit seinem Segen geschlossen worden, und als Harry ein Jahr später gefallen war, hatte der Colonel aufrichtig um seinen Schwiegersohn getrauert.
    Aber ihr Papa weilte nicht mehr unter ihnen. Er war nur sechs Monate nach Harrys Tod den Folgen einer Influenza erlegen. Zu Beginn hatte ihr Bruder sich peinlich genau an die Wünsche seines Vaters gehalten, was die Zukunft seiner Schwestern anging. Dann hatte er Iris Granville geheiratet, und alles war anders geworden.
    Helen seufzte und rieb sich die Hände warm, so gut sie konnte. In Gedanken verloren trat sie ans Fenster und warf einen Blick nach draußen. Der Bäckerjunge kam mit einem verlockend aussehenden Päckchen in der Hand den Bürgersteig entlanggeeilt. Helens Magen knurrte, als sie sich vorstellte, welche wohlschmeckende Köstlichkeit sich darin befinden mochte. Sie sah den Jungen die Straße überqueren und die Treppe hinunterhüpfen, die zur Küchentür des gegenüberliegenden Hauses führte.
    Es dürfte den anderen Bewohnern der Straße nicht entgangen sein, dass kaum noch Händler mit ihren Waren nach Westlea House kommen, ging es ihr durch den Kopf. Zweifellos waren ihre ärmlichen Verhältnisse allen bekannt und einigen
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