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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
Autoren: Arkadi Babtschenko
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hell, das typische Geräusch eines anfliegenden Geschosses. Iiii! Es durchschlug die Hauswand, detonierte auf dem Boden. Alle Verwundeten wurden durcheinandergeschleudert, endgültig getötet oder verstümmelt. Und in der Nacht waren viele Jungs in dieses Haus gekrochen … Ich komme aus dem Keller – und oben im Haus Hackfleisch. Im wahrsten Sinne des Wortes Hackfleisch. Die Artilleristen waren unversehrt geblieben. Und ich war bei ihnen … Wieder mal Glück gehabt.»
    Wie er es dann in das Feldlazarett geschafft hat, daran kann sich Iwan Petrowitsch nicht mehr erinnern. Zu der Zeit lag er schon im Sterben. Durch den Blutverlust verlor er immer wieder das Bewusstsein. Der Chirurg zog seine Karte als erste heraus, rief seinen Namen. Er hörte ihn und röchelte: «Hier …» Wenn er auch nur der Zweite in der Schlange gewesen wäre, hätte er wohl nicht überlebt.
    Seine Schuld dem Vaterland gegenüber hat Gorin doppelt gesühnt. Buchstäblich Sekunden nachdem ihn ein Splitter unter dem linken Schulterblatt getroffen hatte, zerfetzte eine Kugel seine Hand. Die Hand wuchs wieder zusammen, aber die durchstoßene Lunge kann bis heute nur auf der Datscha frei atmen, fern vom Smog der Stadt.
    Wir sitzen auf der Terrasse. Auf Iwan Petrowitschs Knien ein alter, abgewetzter, löchriger Mantel, den er mit Garn in Tarnfarbe flickt. Auf dem Tisch eine Pfeife. Ungeachtet der Verwundung hat er das Rauchen nicht aufgegeben. Auch wenn er gezwungen ist, seine Lunge mehrmals am Tag mit einem speziellen Apparat durchzupusten.
    «Schauen Sie nur, was für ein schöner Himmel», sagt Iwan Petrowitsch. Er schweigt eine Weile. Dann fährt er fort: «Mein damaliger Komplize, Kolka Rogosin, der meine Karten auf dem Markt abgab und mit mir reinfiel und ebenfalls ins Strafbataillon kam, starb in den ersten Sekunden des Kampfes. Er hatte nur einen Schritt getan, da traf eine Kugel ihn mitten in der Stirn. Er kam noch nicht einmal dazu, etwas zu spüren. Heute bedaure ich, dass ich weiß, wo er gefallen ist, wie er gefallen ist, und seiner Mutter nichts gesagt habe …» Er verstummt wieder und schaut in den Himmel. Seine Hand streichelt den alten Mantel.
    Als ich ging, hielt mich Iwan Petrowitschs Schwiegersohn auf: «Hat er Ihnen nichts von seiner zweiten Verwundung erzählt? Einmal ist ihm das rausgerutscht. Die zweite Kugel, die ihn an der Hand traf, die kam von hinten. Er ist überzeugt, dass die Jungs ihn absichtlich angeschossen haben. Dass sie glaubten, der Gauner müsse unbedingt überleben. Denn er war nicht wie die anderen. Er las ihnen Gedichte vor, Shakespeare. Ein feiner Kerl ist er gewesen, hat ein reines Herz gehabt. Die Jungs wussten, dass er Künstler werden wollte …»
    Er wurde nicht einfach nur Künstler. Er lebte sein Leben ganz so, als müsste er die Schuld seiner Sträflingskameraden für diesen einen Schuss abtragen. Dem verdienten Kunstschaffenden und Doktor der Kunstwissenschaft Iwan Petrowitsch Gorin ist es gelungen, ein einzigartiges Institut zu gründen – das wissenschaftliche Forschungsinstitut für Restauration, dessen Ständiger Leiter er bis 1993 war. Er restaurierte das Borodino-Panorama und Rembrandts berühmte Danaë. Arbeitete in Bulgarien, Tschechien, Belarus, Kambodscha, Vietnam. Seine letzte Arbeit war die Restaurierung des Denkmals für Minin und Pozharskij. Seine Bilder hängen im Russischen Museum, in der Dresdener Galerie, dem Museum für Moderne Kunst in Amsterdam, privaten Sammlungen in Frankreich, Deutschland, England, den USA , Mexiko, Indien …
    Er war ein mittelloser Freigeist. Gewährte dem Solschenizyn-Fonds Unterschlupf. Seine Kontakte zu Dissidenten brachten ihm zwanzig Rügen der Partei ein, abgelöst wurde er dennoch nie – er war einfach unersetzlich.
    Am 18 . Oktober 2005 wäre Iwan Petrowitsch achtzig Jahre alt geworden. Am 27 . August des gleichen Jahres ist sein zweiter Todestag.
    ***
    BEFEHL
    des Volkskommissars für Verteidigung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Nr.  227
     
    28 . Juli 1942
    Moskau
    Der Feind wirft immer neue Kräfte an die Front und dringt ungeachtet seiner großen Verluste vor, hinein in die Tiefe der Sowjetunion, erobert neue Gebiete, verheert und verwüstet unsere Städte und Dörfer, vergewaltigt, beraubt und tötet die Sowjetbevölkerung. (…)
    Deshalb ist das Gerede darüber, dass wir endlos zurückweichen könnten, dass wir genügend Territorium hätten, unser Land groß und reich genug wäre, unsere Bevölkerung zahlreich
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