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Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)

Titel: Ein Tag wie ein Leben: Vom Krieg (German Edition)
Autoren: Arkadi Babtschenko
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Zentralarchiv des Verteidigungsministeriums wird bis heute ein Zettel aufbewahrt, der aus einem gewöhnlichen Heft herausgerissen wurde. An einer Ecke ist er leicht verkohlt. Die erhalten gebliebene Mannschaftsliste der einhundertsoundsovielten Strafkompanie. In der Liste: hundertzweiundvierzig Mann. Die Zugangsdaten sind bei allen unterschiedlich. Auch die Gründe: Diebstahl, antisowjetische Propaganda und wer weiß was noch.
    Das Datum des Ausscheidens aber ist bei fast allen das gleiche – der 22 . Februar 1944 . In der Rubrik «Grund für das Ausscheiden» hatte der Befehlshaber der Strafkompanie, ein Leutnant (die sorgfältige, schülerhafte Handschrift deutet darauf hin, dass er noch sehr jung war) neben dem Namen eingetragen: «Im Kampf gefallen. Seine Schuld durch Blut gesühnt.» Um sich nicht zu wiederholen, hatte er neben den übrigen Familiennamen nur einen Strich gesetzt.
    Am 22 . Februar 1944 überlebten nur wenige Kämpfer der einhundertsoundsovielten Strafkompanie. Dreißig Mann. Sie alle starben zwei Tage später. Beim nächsten Angriff.
    Der ganze Strafkrieg beschränkte sich für den Gauner auf eine einzige Attacke, als seine Kompanie in einen Durchbruch hineinstieß, einen Höllensack, mit der Aufgabe, den Korridor zwischen zwei deutschen Abteilungen zu erweitern.
    «Man fuhr uns an die vorderste Linie. Es war fünf Uhr morgens. Zuerst gab man uns ordentlich zu futtern. Ersetzte die Lumpen, die wir am Leib trugen, durch Pelzjacken, teilte jedem einen vollen Rucksack Patronen aus. Sogar Wodka schenkte man uns ein. Nur Waffen gab man uns nicht. Artillerie und Flugunterstützung waren nicht erlaubt. Der Befehl: Alles aus eigener Kraft erobern. Man wollte die unterirdischen Fabriken schützen, von denen sich die Deutschen dort viele gebaut hatten.»
    Erst unmittelbar vor dem Angriff rüstete man das auf die Verteidigungsanlagen geworfene «Menschenmaterial» mit Gewehren aus. Keine Maschinengewehre, keine Maschinenpistolen. «Vorwärts!», hieß es. Ohne Feuerunterstützung, ohne Artillerievorbereitung, allein mit großem «Hurra!».
    «Wir drangen in diesen Durchbruch ein. Ich kann Ihnen sagen … Du stehst unter vollem Feuer, von rechts und links, von oben und vorn. Und hinter dir die Sperrtrupps, die dich nicht durchlassen. Oft werde ich gefragt – hattet ihr Angst vor denen? Daran haben wir gar nicht gedacht. Überhaupt nicht. Und zwar, weil wir gar nicht vorhatten zurückzuweichen. Und ich habe mich immer gewundert: Das waren Sträflinge, Kriminelle – aber abhauen wollte niemand! Das gab es nicht. Nie. Sie haben sich tapfer geschlagen …»
    Nach zwei Stunden hatte die Kompanie eine «ordentliche Entfernung zurückgelegt, so um die hundert, zweihundert Meter». Dann nahm die Feuerstärke unerträglich zu. Die Deutschen verteidigten ihre Befestigungen gemeinsam mit den Wlassow-Soldaten, denen man sich auf keinen Fall ergeben konnte, und so kämpfen sie bis zum Letzten.
    «Das Feuer verstärkte sich. Von rechts, von links, von vorn. Wir warfen uns zu Boden. Ich sage: ‹Jungs, wenn wir so liegen bleiben, lassen sie uns sowieso hier allein.› Und rief: ‹Zum Angriff!› Woher das kam, mein Gott, ich war doch nie laut geworden (
lächelt
). Wir sprangen auf. Rannten los. Und da plötzlich: bums! Ich – rums – in die Erde … Lange muss ich so gelegen haben. Als ich zu mir kam und mich umsah, sehe ich: unsere Jungs. Da läuft ein Melder. Ich zu ihm: ‹He, du …› Er hörte das: ‹Bist du das, Gauner? Wir hatten dich schon abgeschrieben!›»
    Der Tod, der logische Abschluss dieses verderblichen Angriffs, war ihm erspart geblieben. Er gehörte zu jenen, die überlebten. Die ihre Schuld gesühnt hatten.
    Einer von zehn. Zweiunddreißig von dreihundertsechzig. Alle verwundet. Niemand war unverwundet geblieben. Die Kompanie existierte nicht mehr.
    In die Etappe musste der Gauner allein zurückfinden. Schließlich erreichte er das einzige unversehrte Haus, das auf freiem Feld stand. Wie sich herausstellte, das Sanitätsbataillon.
    «Ich komme da rein, aber in dem Haus ist kein Platz mehr – alles voll mit Körpern. Und durch die Bank tot. Auch mich legten sie zwischen diese Leichen, wo hätten sie sonst mit mir hinsollen.»
    Lebende gab es nur wenige in diesem Haus – eine Gruppe Artilleristen, die im Keller Beutespiritus tranken. Sie riefen den verwundeten Burschen zu sich.
    «Ich kletterte zu ihnen runter. Wir tranken, und ich schlief ein. Am nächsten Morgen, kaum wurde es
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