Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein Schritt ins Leere

Ein Schritt ins Leere

Titel: Ein Schritt ins Leere
Autoren: Agatha Christie
Vom Netzwerk:
Der Hang war nur oben sehr steil, unten fiel er in gemäßigter Böschung zum Meer hin ab. Bobby schritt langsam an der Schlucht entlang. Es gab, wie er wusste, eine Stelle, wo man verhältnismäßig leicht hinunterklettern konnte. Die Balljungen pflegten es häufig zu tun und erschienen nach etlicher Zeit schnaufend, aber triumphierend wieder mit dem fehlenden Ball. Plötzlich stockte Bobbys Fuß.
    «Doktor, kommen Sie mal…! Was halten Sie von dem da unten?»
    Etwa 13 Meter tief lag ein dunkles Bündel, das an alte, fortgeworfene Kleidungsstücke gemahnte.
    Dr. Thomas hielt den Atem an.
    «Bei Gott, da ist jemand abgestürzt! Wir müssen zu ihm hinunter.»
    Seite an Seite kletterten die beiden Männer den Felsen hinab, wobei der behändere und kräftigere Bobby dem anderen half. Schließlich langten sie bei dem unheilvollen dunklen Bündel an. Es war ein Mann von ungefähr vierzig Jahren, bewusstlos, aber noch atmend.
    Schon kniete Dr. Thomas neben ihm, tastete die Gliedmaßen ab, fühlte den Puls und zog die Lider hoch. Dann schaute er zu Bobby empor, der nervös die Untersuchung beobachtete, und schüttelte traurig den Kopf.
    «Nichts zu machen. Gebrochenes Rückgrat. Wird’s bald überstanden haben, der arme Kerl. Wahrscheinlich mit dem Gelände nicht vertraut. Als der Nebel aufzog, schritt er an der Stelle, wo der Pfad den scharfen Knick landeinwärts macht, weiter geradeaus und trat ins Nichts. Ich habe die Stadtverwaltung mehr als einmal dringend aufgefordert, dort ein Geländer anbringen zu lassen. Jetzt wird’s vielleicht endlich geschehen.» Schwerfällig stand er auf.
    «Bobby, ich werde gehen und Leute holen, damit wir den Verunglückten nach oben schaffen können. Aber bis wir zurück sind, wird es dunkel sein. Wollen Sie so lange hier bleiben?»
    Der junge Mann nickte.
    «Kann man nichts mehr für ihn tun?», fragte er leise.
    «Nichts. Der Puls lässt rapide nach. In höchstens zwanzig Minuten ist alles vorbei. Möglich, dass er kurz vor dem Ende noch einmal zur Besinnung kommt; aber ich bezweifle es fast. Dennoch…»
    «Schon gut. Ich harre bei ihm aus. Wenn nun das Bewusstsein zurückkehrt… kann man nicht seine Schmerzen irgendwie lindern?»
    «Er wird keine Schmerzen haben. Nicht die geringsten.»
    Nach dieser Versicherung begann Dr. Thomas rasch wieder emporzuklimmen, und Bobby beobachtete ihn, bis er oben verschwand.
    Scheußliche Geschichte! Bobby setzte sich auf einen Felsenvorsprung und zündete sich eine Zigarette an. Die Sache setzte ihm arg zu – es war das erste Mal, dass er dem Tod so nahe kam. Er paffte ein Rauchwölkchen in die abendliche Luft. Wie blödsinnig es in der Welt zuging! Ein paar Nebelschwaden an einem schönen Abend, ein falscher Schritt – und schon war es mit dem Leben vorbei. Was für ein gut und gesund aussehender Kerl obendrein! Sogar die Blässe des nahenden Todes konnte die Sonnenbräune der Haut nicht verbergen. Fraglos ein Mann, der sein Dasein im Freien verbracht hatte – vielleicht irgendwo in Übersee.
    Bobby betrachtete ihn eingehender: das leicht gekrauste, kastanienbraune Haar, das an den Schläfen schon grau wurde, die scharfe Nase, das starke, energische Kinn, die weißen Zähne, die durch die etwas geöffneten Lippen schimmerten. Dann die breiten Schultern und die schmalen, sehnigen Hände. Die Beine waren in einem merkwürdigen Winkel verrenkt und verdreht. Bobby schauderte und wandte seine Augen von neuem dem Gesicht zu. Ein sympathisches Gesicht, gütig, entschlossen, findig. Die Augen, dachte er, waren vermutlich blau…
    Gerade als er bei dieser Vermutung angelangt war, öffnete der Mann die Augen plötzlich.
    Ja, sie waren blau – ein tiefes, klares Blau. Nichts Ungewisses oder Verschleiertes haftete ihnen an. Sie beobachteten und schienen gleichzeitig eine Frage zu stellen. Rasch stand Bobby auf und näherte sich dem Mann. Bevor er ihn erreichte, sprach der andere mit deutlicher, wohl lautender Stimme.
    «Warum haben sie nicht Evans geholt?», sagte er.
    Danach lief ein sonderbares Beben durch seinen ganzen Körper, die Lider schlossen sich, der Unterkiefer sank herab… Der Mann war tot.

2
     
    B obby kniete neben ihm nieder, aber es bestand kein Zweifel: Der Mann war tot. Ein letzter, klarer Moment, jene plötzliche Frage und dann – das Ende.
    Ziemlich unsicher versenkte Bobby Jones seine Hand in die Tasche des Unbekannten und zog ein seidenes Tuch hervor, das er über das stille Antlitz breitete. Mehr vermochte er nicht zu tun.
    Doch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher