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Ein Regenschirm furr diesen Tag

Ein Regenschirm furr diesen Tag

Titel: Ein Regenschirm furr diesen Tag
Autoren: Wilhelm Genazino
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sage ich, aber eine derartige Vielfalt hat dein Mäusegehirn nicht vorgesehen!
    Den letzten Satz möchte ich gleich wieder zurücknehmen. Andererseits konnte ich nicht auf ihn verzichten. Wie bereue ich, daß ich Doris irgendwann einmal ein paar Kinderwünsche gestanden habe, wie bedaure ich, daß ich gewissen Personen überhaupt jemals von meiner Kindheit erzählt habe. Wenn ich mich nicht irre, ist Doris erstarrt. Eine derartige Gemeinheit hat sie mir nicht zugetraut. Andererseits hätte ich nichts dagegen, wenn ich mit Doris keine Gespräche mehr führen müßte. Ich kann es ertragen, wenn sie künftig mit erhobener Kinnspitze an mir vorübergeht. Aber ich habe mich geirrt. Sie prustet los und sagt: Mein Gott, was für ein schräger Vogel bist du geworden! Sie faßt mich am Arm und lacht. Dann sagt sie auch noch: Der Denker und die weißen Mäuse! Und lacht wieder. Ich bin es, der erstarrt, ich bin es, dem jetzt nichts mehr einfällt. Gleichzeitig hoffe ich, Doris’ Herz wird durch das Lachen nicht zu sehr mitgenommen. Ich möchte nicht schuld sein, wenn ihr Herz plötzlich zuviel oder zuwenig Blut pumpt und Doris vielleicht umfällt. Ich müßte mich auf der Stelle von Doris abwenden und grußlos verschwinden, aber ich bleibe stehen, weil ich der einzige bin, der weiß, was mit Doris los ist, wenn sie jetzt einen Schwächeanfall erleidet und in meinen Armen auf den Boden sinkt. Aber Doris sinkt nicht zusammen. Sie schaut mich aus amüsierten Augen an wie eine erfahrene Mutter, die Freude hat an den unfreiwilligen Verrenkungen und Verhebungen ihres Kindes. Da kommt meine Bahn! ruft sie plötzlich aus und rennt los, tschüs!, ruft sie, tschüs! rufe ich und bleibe stehen, weil ich denke, es ist höflich, in dieser Situation stehenzubleiben und zuzuschauen, wie die Bahn langsam heranfährt und anhält und Doris einsteigt.
    Die Wahrheit ist, man wird die Leute nicht mehr los, denen man einmal von seiner Kindheit erzählt hat. Dabei überlege ich, daß die Aufschrift auf dem Schildchen, das ich mir demnächst vielleicht an das Revers heften werde, eine Spur schärfer ausfallen muß. Vielleicht so: DAS SPRECHEN ÜBER DAS THEMA KINDHEIT IN MEINER GEGENWART IST UNERWÜNSCHT. Oder so: WARNUNG! WENN SIE ÜBER IHRE ODER GAR MEINE KINDHEIT SPRECHEN, DANN – nein, das ist zu schroff. Am besten ist, ich werde zu meiner alten Formel zurückkehren. Aber meine alte Formel fällt mir nicht mehr ein. Mein Gott, ich weiß nicht mehr, mit welchem Satz ich mich über die Verdrehungen meiner Kindheit habe wehren wollen. Doris sitzt in der Straßenbahn und winkt mir nach. Ich kann nicht anders, ich winke zurück. Der Fehler liegt allein bei mir. Ich habe in den vergangenen Jahren zuviel und zu wahllos über meine Kindheit gesprochen. Ich sollte damit ganz aufhören, aber das werde ich vermutlich nicht schaffen. Ich möchte wissen, warum mir Doris so sehr nachwinkt. Es ist, als würde sie in mir einen besonders liebenswerten Menschen sehen. Die Niedertracht meines letzten Satzes ist bei ihr entweder überhaupt nicht angekommen oder sofort verpufft.

3
    Zu Hause gehe ich zuerst in das Schlafzimmer und setze mich auf den Bettrand nahe am Fenster. Von hier aus kann ich sehr gut auf den Balkon der Arbeiterfrau sehen. Ich bin gerade noch rechtzeitig gekommen. Drei nasse Hemden hängen schon. Da schieben sich zwei starke weiße Frauenarme zwischen zwei Hemdrücken hindurch und entfalten einen weiteren nassen Stoffklumpen. Es ist das vierte tiefblaue Hemd, das sie wieder mit zwei Plastikklammern auf der Leine befestigt. Ich glaube, ich bewundere die Zweideutigkeit dieser Arbeit; in manchen Augenblicken sieht sie ganz dumpf aus, in anderen ganz und gar beseligt. Die Frau ist dann an die Hemden so ähnlich hingegeben wie die Tierpflegerin an das Fell des Zirkuspferds. Dann mache ich leider einen Fehler. Ich ziehe meine Hose, die Schuhe und die Strümpfe aus. Wann immer ich meine nackten Füße ansehe, sind sie ungefähr fünfzehn Jahre älter als ich. Ich betrachte die stark nach außen getretenen Adern, die polsterartig vergrößerten Knöchel und die immer härter werdenden Fußnägel, die immer mehr jene schwefelgelbe Farbe annehmen, die für die Zehennägel nicht mehr ganz junger Menschen charakteristisch ist. Nicht mehr ganz junger Menschen! Diese Floskel geht mir nur durch den Kopf, weil ich den Schreck über meine Zehennägel abdämpfen muß. Ich schaue hinauf zu der Arbeiterfrau, aber sie ist schon wieder verschwunden. Der Schreck sitzt
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