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Ein Leben unter Toten

Ein Leben unter Toten

Titel: Ein Leben unter Toten
Autoren: Jason Dark
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der Bahre, so daß die wartenden Frauen Gelegenheit bekamen, sich die Tote genau anzusehen.
    Manche hatten das Gefühl, als würde die Haut nicht nur bleich, sondern leicht grünlich schimmern. Das Gesicht glich einer Totenmaske, denn sowohl die Augen als auch der Mund standen noch offen. Die Muskeln mußten in den letzten Sekunden des Lebens einen Krampf bekommen haben, der sich nicht gelöst hatte.
    Gläsern wirkte der Blick Gleichzeitig auch leer, und mancher Heimbewohnerin lief ein Schauer über den Rücken, als sie in das starre Gesicht der Toten schaute.
    »Ich höre nichts«, sagte Blanche Everett, wobei ihre Stimme durch den Flur hallte.
    Gleichzeitig stoppten die beiden Männer ihre Schritte. Die Bahre kam zur Ruhe.
    Nun folgte das, vor dem sich die Frauen am meisten fürchteten. Sie hatten einen regelrechten Horror davor, aber es mußte sein, es gehörte zum Ritual, und eine war da, die den Anfang machte. Dünn und zittrig klang ihre Stimme auf. Das Gesicht zuckte dabei, die Mundwinkel bewegten sich kaum, die Lippen befanden sich in bebender Bewegung, und die Hände hatte die Sprecherin zusammengelegt.
    »Auf Wiedersehen, Diana…« So sprach sie, und Blanche Everett nickte zufrieden.
    »Auf Wiedersehen…«
    »Auf Wiedersehen…«
    Jede Frau mußte diese beiden Worte sagen, dabei ihren Arm vorstrecken und einmal mit den Fingerkuppen über die kalte Gesichtshaut fahren. Gewissermaßen als letzter Gruß an eine Tote.
    »Schneller und lauter!« forderte die Everett.
    Die Frauen gehorchten. Sie alle sagten das gleiche. Ihre Stimmen hallten durch den Flur, sie überschnitten sich, wurden zu Echos, die an den kahlen Wänden entlanggeisterten.
    So und nicht anders wurde von einer toten Freundin Abschied genommen.
    »Auf Wiedersehen…«
    Die letzte hatte das Wort gesagt. Es war Carola Finley gewesen, und sie wurde von Blanche Everett besonders gemustert.
    Die ältere Frau hielt dem Blick stand. Sie spürte so etwas wie Widerstand in sich hochsteigen, das Blut hämmerte in ihren Schläfen, aber sie gab nicht nach.
    Plötzlich lächelte Blanche. »Bis zur Beerdigung haben wir noch ein wenig Zeit. Ich möchte mit Ihnen ein paar Worte reden. Kommen Sie mit, und zwar jetzt!«
    Auch die anderen Frauen hatten den Befehl vernommen. Auf ihren Gesichtern zeichneten sich ihre Gedanken ab. Es war die Angst, die Furcht, das Mißtrauen und auch Mitleid. Eine jede wußte, daß Gespräche mit Blanche Everett nicht gerade zu den angenehmen Seiten des Lebens hier zählten. Etwas blieb immer zurück.
    Und Edith Wiser konnte ihre Gefühle ebenfalls nicht verbergen. Nur lächelte sie, als würde sie mehr wissen.
    »Ihr schafft die Tote in den Sarg und bereitet alles für die Beerdigung vor«, wurde den beiden Männern gesagt.
    Sie nickten und schoben die Bahre schneller weg.
    »Kommen Sie!« sagte Blanche und ging vor. Sie schritt ziemlich rasch aus und kümmerte sich nicht darum, ob Carola Finley das Tempo auch halten konnte.
    Die gab sich keine Blöße und ließ sich nicht zurückfallen. Beide Frauen verschwanden durch eine Bogentür und gelangten in einen schmaleren Gang.
    Hier lagen die Büros, und ein paar Yards weiter führte eine Treppe in den Keller des Altersheims, wo das Grauen wohnte und sich freiwillig keiner hintraute.
    Blanche Everett schloß die Tür ihres Büros auf, betrat den Raum zuerst und schritt vor bis zu ihrem Schreibtisch, davor dem Fenster stand und von zwei hohen, breiten Schränken zusätzlich eingerahmt wurde. Deren Holz schimmerte dunkel.
    Einen Platz bot die Frau ihrer Besucherin nicht an. So mußte die ältere Carola Finley stehenbleiben.
    Die Everett setzte sich. Sie klappte ein Etui auf und entnahm ihm eine schmale, sehr lange Zigarette. Wo sie die Lungenstäbchen herbekam, wußte nur sie. Die Pakete wurden ihr immer zugeschickt. Sie steckte die Zigarette in eine Spitze, zündete mit einem schwarzen Feuerzeug das Stäbchen an und rauchte einige Züge.
    »Kommen Sie näher!« sagte sie.
    Carola Finley gehorchte. Sie blieb so dicht vor dem Schreibtisch stehen, daß ihre Oberschenkel die Kante berührten, und schaute in die graublauen Rauchwolken hinein, die ihr entgegengeweht wurden. Sie atmete den Qualm auch ein und fand ihn seltsam süßlich. Das war kein normaler Tabak, den Blanche Everett rauchte. Wahrscheinlich hatte sie ihn mit einer Droge versehen.
    Carola Finley stand bewegungslos. Sie wartete auf die Fragen der Frau, doch Blanche ließ sich Zeit. Dafür musterte sie ihr Gegenüber von oben bis
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