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Ein Haus für vier Schwestern

Ein Haus für vier Schwestern

Titel: Ein Haus für vier Schwestern
Autoren: Georgia Bockoven
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steckte. Sie hatte die Pfeilspitzen und Kugeln immer nur angesehen, aber nie auch nur ein Buch aus dem Regal genommen, eine Schublade des Schreibtischs oder das lederbezogene Kästchen geöffnet, das auf seiner Platte stand. Das hätte sich wie eine Verletzung seiner Privatsphäre angefühlt.
    Aber jetzt wollte sie den Mann verstehen, der sie verlassen hatte. Christina lehnte ihren Teddy gegen die Schreibtischlampe, setzte sich in Jessies Sessel und griff nach dem Kästchen. Sie hob den Deckel und sah hinein.
    Darin befanden sich eine flache Damenarmbanduhr mit einem feingliedrigen Band, eine Taschenuhr, eine alte Nickelbrille, vergilbte Briefe, zerknitterte Schwarz-Weiß-Fotos und eine Seite aus einer Familienbibel. Darauf waren Todesfälle, Geburten und Hochzeiten bis zurück ins Jahr 1820 verzeichnet.
    Christina legte die Briefe zur Seite und sah sich die Fotos an. Jessie war sogar als kleiner Junge eindeutig zu erkennen. Die Arme steif zu beiden Seiten ausgestreckt, stand er vor einem Farmhaus mit rohen Holzwänden. Der Ausdruck in seinen Augen war damals schon genauso hungrig und entrückt wie später. Das dünne Mädchen mit den Zöpfen und dem zahnlosen Grinsen musste ihre Tante sein, der Junge mit dem Overall und der tief ins Gesicht gezogenen Kappe ihr Onkel.
    Von ihren Großeltern gab es eine Aufnahme in ihrer Küche. Ihre Großmutter stand am Herd, mit einem Löffel in der Hand. Eine Baumwollschürze bedeckte ihren Rock. Ihr Großvater lehnte gegen den Tisch und lächelte die Frau verschmitzt an, die er offensichtlich liebte.
    Christina betrachtete das Foto. Sie konnte das Glück fast mit Händen greifen. Ihre Großmutter musste eine außergewöhnliche Frau gewesen sein, bei allem, was sie später überlebt hatte.
    »Wie hast du das gemacht, Großmutter?«, fragte sie leise. »Wie konntest du dir so oft das Herz brechen lassen und trotzdem weitermachen?«
    Es gab weitere Fotos, einschließlich eines Babyfotos von Jessie mit seinem Namen auf der Rückseite. Er lag nackt auf einem Bärenfell und war offensichtlich sehr unglücklich darüber.
    Die meisten Aufnahmen waren auf der Farm gemacht worden, es gab aber auch ein paar aus den Bergen. Doch wer immer sie gemacht hatte, war so weit von den Menschen weg gewesen, dass sie eine Lupe brauchen würde, um jemanden zu erkennen.
    Sie konnte sich selbst in diesen Leuten nicht wiedererkennen, aber das hatte sie auch bei ihrer Familie nicht gekonnt. Im Vergleich mit ihren Halbbrüdern und -schwestern in Mexiko sah sie bleich aus, im Vergleich mit ihren Schwestern hier dunkel. Sie sagte das nie laut, aber es gab Zeiten, dass fühlte sie sich nirgends richtig dazugehörig.
    Sie nahm ein Foto von Jessie auf der Veranda in die Hand. Sein Gesicht im Profil, starrte er auf eine Staubwolke am Horizont. Er sah einsam und eigenbrötlerisch aus. Ein Junge auf dem Weg zum Mann, der nicht wusste, wie viele Sorgen sein zukünftiges Leben mit sich bringen würde.
    War sie seine Niederlage? Sein Eingeständnis, dass er zwar Schlachten gewonnen, aber den Krieg um sein persönliches Glück verloren hatte? War es möglich, dass er wirklich geglaubt hatte, er täte ihr einen Gefallen, wenn er ginge?
    Sie hielt sich das Foto ganz nah vor die Augen. Tränen trübten ihren Blick, und sie drückte sich das Abbild ihres Vaters ans Herz.
    »Ich liebe dich, Daddy«, sagte sie noch einmal. »Ich habe dich immer geliebt und werde dich immer lieben. Ich wünschte, du hättest mir eine Chance gegeben, dir das zu sagen.«
    Dann packte sie ihren Teddybären und steckte ihn automatisch unter ihren Arm. Dort hatte er zwanzig Jahre verbracht, seit dem Moment, wo er mit ihr aus dem Zoo nach Hause gekommen war.
    Als sie gerade gehen wollte, fiel ihr Blick auf das Regalbrett, auf dem Franks Orden seinen Platz gehabt hatte. Sie setzte ihren Bären dorthin und rückte ihn zurecht.
    »Sieht so aus, als ob du ein neues Zuhause hättest«, sagte sie und lächelte unter Tränen. »Und das scheint für uns beide zu gelten.«

52
    Elizabeth
    »Ich muss mit dir reden«, sagte Stephanie.
    Elizabeth hielt in ihrer Bewegung inne. Der Engel, den sie gerade in der Hand hatte, schwebte zwischen den bereits reichlich geschmückten Zweigen des Weihnachtsbaums.
    Sie hatte bei Stephanie seit Thanksgiving Veränderungen festgestellt. Nichts Greifbares, nur ein wachsendes Zutrauen in ihre täglichen Entscheidungen und ein Interesse an Dingen, die sie nicht persönlich betrafen. Ihre Neugier bezüglich ihrer neuen Tanten
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