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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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hervorstehenden Rippen, seine Kindheit, die in eine Handvoll Asche verwandelt und vom polnischen Wind fortgeweht worden war. Doch wenn Louise seine Wesenszüge erwähnte, den wohlgestalteten Körper, der dem von Maxime in nichts nachstand und dem sein Vater bewundernde Blicke schenkte, spürte ich die Stiche einer grausamen Eifersucht.

    Nachdem ich all die Jahre im Schatten eines großen Bruders gelebt hatte, stieß ich nun auf den, den meine Eltern mir verheimlicht hatten. Und ich mochte ihn nicht. Louise hatte mir das Porträt eines bezaubernden, selbstsicheren, starken Jungen gezeichnet, der in allen Punkten dem glich, der mich jede Nacht niederschmetterte. Ich wußte zwar, wie entsetzlich mein Wunsch war, aber am liebsten hätte ich dieses Bild den Flammen übergeben.

Ich hatte den Moment, in dem ich es erfahren sollte, so lange wie möglich hinausgezögert: Ich riß mir Wunden am Stacheldraht, der das Schweigen umzäunte. Darum erfand ich mir einen Bruder, denn ich konnte den, der sich für immer dem stummen Blick meines Vaters eingeprägt hatte, nicht erkennen. Durch Louise erfuhr ich, daß er ein Gesicht besaß, das Gesicht eines kleinen Jungen, den man mir verheimlichte und der mich stets und überall verfolgte. Da sie schon immer mit der Wunde lebten, ihn seinem Schicksal überlassen zu haben, und mit der Schuld, ihr Glück seinem Verschwinden zu verdanken, hielten ihn meine Eltern in der Finsternis verborgen. Ich stöhnte und ächzte unter der Schande, die ich geerbt hatte, wie unter jenem Körper, der mich nachts tyrannisierte.

    Ich wußte nicht, daß mein Vater hinter meinem schmächtigen Oberkörper und meinen Storchenbeinen ihn sah. Er betrachtete jenen Sohn, der sein Ebenbild hätte werden sollen, seinen zerstörten Traum. Bei meiner Geburt war es noch einmal Simon, den man in seine Arme legte, sein Traum von einem Kind, das er nach seinem Bild formen wollte. Und nicht mich, dieses stotternde Leben, einen Entwurf voller Mängel, in dem sich keiner seiner Züge erkennen ließ. Hatte er seine Enttäuschung vor meiner Mutter verbergen können, war er gerührt bei meinem Anblick und hatte sich ein Lächeln abringen können?Alle meine Verwandten wußten von Simon, kannten ihn und liebten ihn. Alle erinnerten sich an seine Lebenskraft, seine starke Persönlichkeit. Und alle hatten ihn mir verschwiegen. Ohne es zu wollen, hatten auch sie ihn von der Liste sowohl der Toten als auch der Lebenden gestrichen, hatten aus Liebe die Tat seiner Mörder wiederholt. Man konnte seinen Namen auf keinem Stein lesen, er wurde von niemandem mehr ausgesprochen, ebensowenig wie der seiner Mutter Hannah. Simon und Hannah, die gleich zweimal ausgelöscht wurden: vom Haß ihrer Verfolger und von der Liebe ihrer Nächsten. Die von einer Leere geschluckt wurden, der ich mich niemals würde nähern können, ohne meinen Untergang zu riskieren. Ein strahlendes Schweigen, eine schwarze Sonne, die sich nicht damit begnügt hatte, sein Leben zu verschlingen, sondern die auch jede Spur unserer Abstammung getilgt hatte.

    Simon. Ich war sicher, daß ich nicht so früh laufen konnte wie er, daß ich erst Monate später als er zu sprechen begann. Wie hätte ich mich auch mit ihm messen können? Mich verstörte die Lust, die ich beim Gedanken an diese Niederlage empfand, und ich zog eine morbide Befriedigung daraus: Den Bauch auf die Matratze gedrückt, seinen Fuß im Nacken, kapitulierte ich vor meinem Bruder.

    Ausgerechnet Louise hatte mich mit ihm zusammengebracht. Es war unvermeidlich, daß seine Phantomgestalt eines Tages in dieser Bresche erschien, in dem, was sie mir anvertraute. Durch die Entdeckung des kleinen Plüchhundes hatte ich ihn bereits ans Licht gezerrt, und er hatte meine Kindheit beherrscht. Ohne meine alte Freundin hätte ich es vielleicht nie erfahren. Zweifellos hätte ich weiter mein Bett mit dem geteilt, der mir seine Stärke bewies, ohne zu ahnen, daß ich in Wirklichkeit mit Simon rang, meine Beine um seine schlang, meinen Atem in seinen mischte und immer als Verlierer endete. Woher hätte ich auchwissen sollen, daß man gegen einen Toten nie gewinnen kann.

IV

Durch Louises Enthüllungen konnte ich meiner Erzählung neue Seiten hinzufügen. Eine zweite Geschichte hat sich ergeben, deren Leerstellen ich mit meiner Phantasie ausgefüllt habe, eine Geschichte, die aber die erste nicht verdrängen konnte. Beide Romane stehen nebeneinander, versteckt in der Tiefe meines Bewußtseins, und jeder beleuchtet auf seine
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