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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)
Autoren: Philippe Grimbert
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meiner Eltern erstmalig verraten. Sie, die in ihrem Leben nie ein Kind gehabt hatte, ja, soweit man ihr glauben kann, nicht einmal eine wirkliche Liebe, liebte mich genug, um das zu tun. Die alleinstehende alte Dame betrachtete es als ihre Pflicht, für den Jungen, der ihr ähnelte, der sich wie sie von den anderen unterschied, das Schweigen zu brechen. Und ich stellte mir nie mehr vor, ich sei der erste, der einzige.

Je weiter Louise mit ihrem Geständnis vorankam, desto mehr schwanden meine Gewißheiten. Ein zu heftiger Gefühlsausbruch von mir hätte sie in ihrem Schwung gebremst. So hörte ich aufmerksam zu, unterdrückte meine Tränen, bezwang meine Gefühle. Die Geschichte meiner Eltern, die ich in meiner ersten Erzählung so rein dargestellt hatte, war nun voller Windungen. Ich legte ihren Weg blindlings zurück, ein Exodus, der mich von denen entfernte, die ich liebte, und mich zu unbekannten Gesichtern brachte. Auf einem Weg, an dem überall Stimmen flüsterten, sah ich nun Tote am Wegrand liegen.

    Aus dem Dunkel tauchten drei Tote auf, deren Namen ich zum ersten Mal hörte: Robert, Hannah und Simon. Robert, Tanias Ehemann, Simon, der Sohn von Maxime und Hannah. Ich hörte Louise »Tanias Ehemann« und »der Sohn von Maxime« sagen und empfand nichts dabei. Ich erfuhr, daß meine Eltern verschwägert waren, bevor sie Mann und Frau wurden, und ich zeigte keine Regung. Wie ein Seiltänzer klammerte ich mich auf dem Seil, das Louise mir spannte, an die Balancierstange und blickte weit nach vorne, die Augen starr auf das Ende ihrer Erzählung gerichtet.
    Schließlich hatte Louise auch Simons Namen erwähnt. Zum ersten Mal trat er offiziell in Erscheinung, nachdem er sich in all die Bilder von anonymen Ringern, harten Jungs und Schulhoftyrannen eingeschlichen hatte. Der Bruder, den ich erfunden hatte, um meine Einsamkeit zu durchbrechen, dieser Phantombruder hattealso gelebt. Louise hatte ihn gekannt, geliebt. Joseph war schon Simons Großvater, bevor er meiner wurde, Georges, Esther, Marcel, Elise waren seine nächsten Verwandten. Bevor Tania meine Mutter wurde, war sie seine Tante gewesen. Wie nannte er sie, wie war sie zu ihm?

    Nachdem sie mir von den verbotenen Orten, den entwürdigenden Schildern und den gelben Sternen berichtet hatte, die mit den vier Buchstaben bestickt waren, die mich heute bezeichnen, wollte Louise mir noch das Schlimmste erzählen, aber da versagte ihr die Stimme.

Bald würde ich wieder durch den Flur zurückgehen und in das Treiben im Laden eintauchen müssen. Ich war nicht mehr derselbe, und die, die ich wenige Meter entfernt von Louises Praxis treffen würde, hatten sich ebenfalls verwandelt. Hinter den Masken, die soeben gefallen waren, kamen ungeahnte Leiden zum Vorschein. Ich sah so bleich aus, daß sich meine Eltern Sorgen machten, doch mit einem Lächeln konnte ich sie beruhigen. Ich beobachtete sie, sie hatten sich nicht verändert. Das Schweigen würde fortdauern, und ich konnte mir nicht vorstellen, daß es irgendeinen Grund gäbe, es zu brechen. Ich versuchte meinerseits, sie zu schützen.

    In den darauffolgenden Wochen besuchte ich Louise häufiger und führte meine Befragung fort. Meine Freundin schlug ein Kapitel nach dem anderen auf: Die Ereignisse, die ich in allen Einzelheiten aus meinem Geschichtsbuch kannte, die Besatzung, das Vichy-Regime, das Schicksal der Juden, die Demarkationslinie, waren für mich nicht mehr auf Kapitelüberschriften in einem Schulbuch beschränkt, sondern wurden plötzlich lebendig wie Schwarzweißfotos, die farbig werden. Meine Eltern hatten all das erlebt und waren viel direkter davon betroffen, als ich geglaubt hatte.
    Maximes erste Frau, Hannah, tauchte mit ihren blassen Augen und ihrem Porzellanteint aus der Nacht auf. Eine besorgte und zärtliche Mutter, die auf ihren einzigen Sohn gut aufpaßte. Mehr Mutter als Frau, sagteLouise, um Maxime zu entschuldigen und Tania nicht zu belasten.
    Ich lernte Simon kennen: der Stolz seines Vaters, aus dem einmal ein Champion mit geschmeidigen Muskeln werden würde, der Liebling seiner Mutter, ein Siegertyp schon im zartesten Alter. Und wenn Louise die Stimme versagte, blieb ich ungerührt: Ich konnte kein Mitleid für ihn empfinden. Was sie mir über Simon erzählte, erregte in mir eine dumpfe Wut, für die ich mich sogleich schuldig fühlte. Ich versuchte, mir seine Verzweiflung vorzustellen, seinen Körper, der meinem ähnlich geworden war, der unter dem groben Stoff schlotterte, seine
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