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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde
Autoren: T.C. Boyle
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meisterlichen Lippenabdrücke, doch wieder von ihr fasziniert bin, körperlich und nervlich völlig geschafft, dennoch innerlich bereit, aufgeschlitzt und noch einmal geopfert zu werden. Ich bin nervös, das ist es. Und wenn ich nervös bin, kann ich den Mund nicht halten.
    »Erinnerst du dich an ein Mädchen namens April Wind – sie war in Sierras Alter?« Andrea beobachtet mich, sucht nach dem Riß in meinem Gesicht, in den sie den ersten Haken treiben kann, um den Aufstieg zu meinem armen zitternden Hirn in Angriff zu nehmen. Von mir kriegt sie zunächst mal nichts. Gar nichts. Meine Augen sind aus Glas. Mein Gesicht eine Skulptur von Oldenburg, monumental und undurchdringlich. Sierra – die berühmte Sierra Tierwater, Märtyrerin für die Sache der Bäume – ist meine Tochter. War meine Tochter. Von April Wind hab ich noch nie gehört. Hoffe ich zumindest.
    »War damals zu Anfang der Baumbesetzung mit dabei, im Sommer 2001?«
    Da springen bei mir sämtliche Alarmsensoren an – ich hätte zu Hause bei meiner Hyäne bleiben sollen, hab’s ja gewußt. Ich bin verletzt. Und einsam. Und alt. Ich hab keine Zeit für so was. Aber Andrea wird weitermachen, garantiert – wenn ich eins über sie weiß, dann das. Irgendwas geht hier vor – etwas, was mir überhaupt nicht gefällt, und sobald sie damit rausgerückt ist, wird sie sich praktischeren Dingen zuwenden – sie braucht Geld, Essen, Kleidung, Medikamente, muß unbedingt eine Zeitlang bei mir wohnen, ein paar Wochen, einen Monat, sie braucht mich, will mich wiederhaben, und plötzlich wird sie sich vorbeugen, und wir werden uns küssen, mit Sushi auf den Lippen, und sie wird unter dem Tisch die Hand ausstrecken und mich an dem einen Ort packen, wo ich noch verwundbarer bin als im Kopf.
    Ihre Lippen, ich betrachte ihre Lippen – mir wird klar, daß das Kollagenimplantate sind, und ihr Gesicht ist zu strahlend und zu perfekt, um natürlich zu sein, aber wer will in meinem Alter schon Natur? »Du erinnerst dich an sie«, beharrt sie und stochert geistesabwesend mit ihren Stäbchen im Essen herum (sie hat pikante Welsrolle, Tilapia-Sushi, geräucherten Sonnenfisch und koi sashimi bestellt, eine gute Wahl – jedenfalls die beste, die es hier gibt. Und es wird nicht billig werden, aber da ich Andrea kenne, habe ich eine frische Fünfhundertdollarkarte eingesteckt). »Das war die, die damals auch aus Teos Actioncamp zu uns gestoßen ist? Echt klein, sie kann kaum mehr als fünfundvierzig Kilo gewogen haben. Asiatin. Oder Halbasiatin? Hat geschworen, daß die Bäume mit ihr reden, weißt du nicht mehr?«
    Langsam erinnere ich mich, aber das will ich gar nicht. Und der Name Teo rammt mir ein glühendes Eisen in die Gedärme, wo er den wasabe in Brand setzt, der dort in einem Fischsud aus Karpfenrogen und halbverdautem Tilapia herumschwappt. »Was ist mit Teo?« frage ich, gerade als der Wind so wuchtig losbläst, daß es den Laden schüttelt, als wäre er aus Stroh.
    »Ich hasse das«, zischt sie und wappnet sich gegen die nächste Bö. Wir hören, wie etwas losgerissen wird, dann rasselt irgendein wesentliches Teil des Daches über die Schindeln, zerrt kurz über uns an den stählernen Trossen, bevor es in die Nacht davonsaust. Von herumfliegendem Dachmaterial sind schon Leute geköpft worden, zermalmt, erschlagen, gepfählt – so was hört man täglich in den Nachrichten. Eine Frau in der Apartmentsiedlung Lupine Hill brachte letztes Jahr gerade den Abfall raus, als eine Fahnenstange aus dem Himmel geflogen kam wie ein Wurfspeer und sie an den Müllcontainer nagelte, so daß sie aussah wie ein Insekt auf dem Präparierbrett. Außerdem grassieren Augen- und Lungenschäden wegen der vielen Partikel in der Luft, gar nicht zu reden von Allergien, die man vor zwanzig Jahren noch nicht mal vom Hörensagen kannte. Während der trockenen Jahreszeit, wenn die Luft nur eine Sonderform von Staub ist, tragen viele Leute – mich eingeschlossen – Schutzbrille und Gazemasken. Aber was soll ich dazu sagen? Ich hab’s ja kommen sehen?
    Das ist die Welt, die wir geschaffen haben.Und jetzt leben wir auch drin.
    »Man gewöhnt sich dran«, sage ich achselzuckend. »Aber in Arizona habt ihr ja auch Probleme – da wohnt ihr doch jetzt, oder?«
    Sie nickt, ein knappes, ökonomisches Senken des Kinns, das mir sagen will: Frag nicht weiter.
    »Und Teo?« beharre ich und versuche, es so beiläufig wie möglich klingen zu lassen, obwohl es mich innerlich halb auffrißt und ich am
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