Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ein fliehendes Pferd

Ein fliehendes Pferd

Titel: Ein fliehendes Pferd
Autoren: Martin Walser , Helmuth Kiesel
Vom Netzwerk:
Helmut wiedererkannte, eine Verwechslung war ausgeschlossen.
    Vielleicht hatte Helmut diesen Klaus Buch aus seinem Gedächtnis getilgt. Hatte er nicht einmal einen beneidet, der eine Lektorstelle in Edinburgh gekriegt hatte? Er glaubte, er habe. Und ein Kläuschen, das immer alles kriegte, hatte es gegeben. Das war dann der. Dieses Haus, das Fenster hatte, so hoch wie Kirchenfenster, farbige, das war deren Haus; hinter dunklen Bäumen; feierlich. Er war nie hineingegangen. Er hatte Angst gehabt. Nur einmal, als er wußte, die waren alle an der Nordsee, war er über die Mauer geklettert und hatte, von den Büschen aus, diesen Garten betrachtet und dieses hohe Haus. Hatte es nicht einen Erker, der sich mit Hilfe eines eigenen spitzen Dachs zu einem Türmchen entwickeln wollte? Plötzlich hatte er abhauen müssen. Vor Angst.
    Hattest du nicht ein Vollballonrad, sagte Helmut. Jaa, rief Klaus Buch, Mensch, endlich, ich habe schon gefürchtet, du willst mich nicht mehr kennen.
Klaus sagte, er führe sie in den Hecht. Sehr einverstanden, sagte Helmut.

    3.

    Helmut begriff allmählich, daß dieser Klaus Buch für einige ihm teure Jahre seines Lebens keine Zeugen mehr gehabt hatte. Und gerade aus diesen Jahren wollte er offenbar überhaupt nichts verloren gehen lassen. Zur Wiedererweckung des Gewesenen brauchte er einen Partner, der zumindest durch Nicken und Blicke bestätigte, daß es so und so gewesen sei. Ohne diesen Partner könnte er gar nicht sprechen von damals. Helmut sah, daß er es mit dem Kriegskameradenphänomen zu tun hatte. Er kannte diesen Wiedererweckungsfanatismus nicht. Jeder Gedanke an Gewesenes machte ihn schwer. Er empfand eine Art Ekel, wenn er daran dachte, mit wieviel Vergangenheit er schon angefüllt war. Deckel drauf. Zulassen. Bloß keinen Sauerstoff drankommen lassen, sonst fing das an zu gären. Anders Klaus Buch. Wenn der einen Faden hatte, wollte er alle anderen anhängigen auch. Er konnte nicht nachgeben, bis er das ganze Gewebe eines Nachmittags vor 25 Jahren wieder vor sich zu haben glaubte. Oder doch das Muster. Oder die Farben. Oder wenigstens die Idee. Meistens wußte dieser Klaus Buch allerdings so genau Bescheid über das, was gewesen war, daß Helmut erschrak. Auf dem Rand des Marktplatzbrunnens hätten Geranienkisten gestanden, von denen sie, bevor Klaus Buch das von Helmut befohlene Bad habe nehmen können, zwei Kistchen heruntergenommen hätten. Die Theologiestudentin, du weißt doch, die mit dem Marika-Rökk-Gesicht und der gestickten Bluse, die habe sich umgedreht, als Klaus Buch mit dem Entkleiden begonnen habe. Weißt du nicht mehr, mit so halblangen nach innen gedrehten Haaren und oben auf den Haaren einen Zopf, der dann links und rechts in ihnen verschwunden sei oder aufgehört habe …
    Helmut spürte einen brennenden Neid. Er hatte praktisch nicht gelebt. Es war nichts übrig geblieben. Hinter ihm war so ziemlich nichts. Wenn er sich erinnern wollte, sah er reglose Bilder von Straßen, Plätzen, Zimmern. Keine Handlungen. In seinen Erinnerungsbildern herrschte eine Leblosigkeit wie nach einer Katastrophe. Als wagten die Leute noch nicht, sich zu bewegen. Auf jeden Fall standen sie stumm an den Wänden. Die Mitte der Bilder blieb meistens leer. Er spürte, daß in ihm das Abenteuer endgültig zu Ende gegangen war. Das Erzählbare überhaupt. Manchmal setzte er sich zwar hin und ließ in einer Art Panik alle Leute aufmarschieren, die er je kennengelernt hatte. Die Namen und Gestalten, die er aufrief, erschienen. Aber für den Zustand, in dem sie ihm erschienen, war tot ein viel zu gelindes Wort. Er hatte wahrscheinlich kein schlechteres Gedächtnis als andere. Auch zogen ihn Jugend und Kindheit in der bekannten Weise an. Aber dann konnte er nichts anfangen mit den stummen, geruchlosen, farblosen Szenen. Eine Zeit lang hatte er fanatische Erweckungsversuche betrieben. Einmal hatte er sogar angefangen, alles aufzuschreiben, was er von seinem Vater noch wußte. Sein Vater war Kellner im Hindenburgbau gewesen. Helmut hatte sich geekelt, als er sich erlebte, wie er die Gedächtnisfetzen zusammenleimte, wie er sie anmalte, behauchte, Texte erfand für sie. Für dieses Puppentheater war er zu alt. Etwas von früher lebendig zu machen, hieß doch, es auf eine Weise komplettieren, daß das Vergangene in jener Pseudoanschaulichkeit auferstand, die den Vergangenheitsgrad des Vergangenen einfach verleugnete. Was von seinem Vater nachher auf dem Papier stand, wollte den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher