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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge
Autoren: dtv
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der in meinem tiefsten Inneren schlief und der mich in meinen Träumen heimsuchte, hat das Gesicht, den klaren Blick und die abstehenden Haare von Antoine angenommen. Ich hatte ihn vergessen wollen, ebenso wie ich den Inhalt seines Geschenks aus meiner Erinnerung verbannt hatte: In dem ungeschickt verschnürten Päckchen war der Schlüssel zum Saut-du-Loup gelegen.
    Ich gehe zu Iannis in die Mitte der Spielfläche und setze mich neben ihn. Er öffnet seine Hand, Sand rieselt heraus über meine. Wir beide betrachten diese seltsame Sanduhr einer Zeit, die für Iannis für immer stehen geblieben zu sein scheint. Dann machen wir uns auf den Heimweg.

 
    Wie jedes Mal, wenn ich ins Wohnzimmer trete, reißt Helena ein Blatt aus ihrer Remington und lässt es in der Schreibtischschublade verschwinden. Als sie sich zu uns umdreht, sehe ich, dass sie wieder geweint hat. Mit tonloser Stimme bittet sie mich, doch meine üblichen Aufgaben zu erledigen, Iannis zu baden, ihm das Abendessen zu richten und ihn ins Bett zu bringen. Ich tue, was sie verlangt, denke dabei jedoch ständig an unseren Besuch im Hôtel des Flots: Von nun an muss ich mit der Erinnerung an Antoine leben.
    Als ich wieder ins Wohnzimmer hinuntergehe, sitzt Helena auf dem Sofa.
    »Jérôme hat heute Nachmittag angerufen, die Dinge überschlagen sich. Die Einrichtung ist bereit, unseren Sohn aufzunehmen, doch wir müssen unsere Zusage schnell geben, viele Familien wollen unbedingt diesen Platz, er kann höchstens ein paar Tage unbesetzt bleiben   … offenbar eine Geldfrage.«
    Sie lässt sich Zeit, bevor sie mit belegter Stimme fortfährt:
    »Sie müssen Iannis morgen begleiten, mit dem Zug, damiter so schnell wie möglich mit seinem Vater dorthin abreisen kann. Jérôme wird Sie an der Gare Saint-Lazare abholen, er schlägt Ihnen vor, Ihren Wagen am Bahnhof von Caen abzustellen und später abzuholen. Mit Iannis auf dem Rücksitz zu fahren ist zu riskant, man weiß nie, wie er sich verhält, ob er den Hals des Fahrers umschlingt oder ihm die Augen zuhält.«
    Ich frage sie, ob sie uns begleiten wird, obwohl ich ihre Antwort im Voraus kenne. Sie atmet tief ein:
    »Bis zum Bahnhof ja, um auf Iannis aufzupassen, während Sie fahren. Aber nicht bis nach Paris, und noch weniger bis nach Belgien. Das übersteigt meine Kräfte. Ich weiß noch nicht einmal, wie ich diese Neuigkeit Iannis mitteilen soll, ich hätte ihn darauf vorbereiten, schon lange einmal mit ihm darüber sprechen sollen. Ich habe es nicht fertiggebracht.«
    Anders als sonst, schenke diesmal ich uns zwei Gläser ein, die wir schweigend leeren. Alles geht so schnell, viel schneller als vorhergesehen: Morgen schon werde ich mich von Iannis trennen müssen. Doch ich habe meinen Entschluss von heute früh nicht vergessen und ergreife jetzt die Initiative, lege meine Hand auf Helenas Schenkel. Sie erschaudert und dreht sich zu mir, findet zu ihrer Ironie:
    »Welch plötzlicher Wandel, Louis! Ich sehe, Ihr Entschluss, sich mir zu verweigern, ist nicht in Stein gemeißelt. Ich kenne Ihre Vorliebe für die Klassiker, doch der Augenblick ist schlecht gewählt: Sie sind kein Julien Sorel, und ich noch weniger eine Madame de Rênal. Sie werden es mir nicht verübeln, hoffe ich, zumindest nicht mehr als ich esIhnen verübelt habe   …, wie dem auch sei, ich bin gerührt über Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Ihnen eine gute Nacht.«
    Damit steht sie auf, und während sie um den Couchtisch und zur Treppe geht, bleibt ihr Blick undurchdringlich.

 
    Iannis atmet tief, eine Strähne klebt an seiner feuchten Stirn. Ich beuge mich über ihn, um ihm ins Ohr zu murmeln, was ihn morgen erwartet: die Fahrt zum Bahnhof, die wir zu dritt unternehmen, dann die Zugfahrt nach Paris, die wir beide allein machen. Ich erzähle ihm von der Einrichtung in Belgien, von den Freundschaften, die er dort schließen kann. Absurde Aussagen, ich weiß: Freunde für Iannis! In dem Augenblick, als ich versuche ihm zu sagen, wie sehr er mir fehlen wird, löst sich eine Träne aus meinem Augenlid und fällt auf seine Hand. Aus Angst, ihn zu wecken, verlasse ich das Zimmer auf Zehenspitzen.
    Ich öffne meine Schlafzimmertür, überquere den Flur und gehe furchtlos zum gegenüberliegenden Zimmer. Es ist stockdunkel, ich taste mich an das Bett, setze mich auf die Bettkante und strecke die Hände nach Helenas Haar aus, das über dem Kopfkissen verteilt ist. Sie schreckt auf, bewegt sich vorsichtig, dann verharrt sie ruhig, als wartete sie.
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