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Ein besonderer Junge

Ein besonderer Junge

Titel: Ein besonderer Junge
Autoren: dtv
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Tätigkeit, ohne sich weiter um uns zu kümmern.
     
    Im Zimmer half ich Iannis, sich umzuziehen; er gehorchte, ohne zu jammern, und versuchte nicht, sich zu beißen, wie sonst immer, wenn man eine Forderung an ihn stellte; doch ich bemerkte, dass er sich nur einer Hand bediente, die andere blieb hartnäckig geschlossen. Seine Mutter hatte mich gewarnt: Er neige dazu, Essen zu stibitzen, Kuchenstücke, Bonbons, die er anschließend unter sein Kopfkissenlegte, wo man sie morgens schmutzig oder zerdrückt finden würde, wenn sie nicht gar in seinem Haar klebten. Ich ging zu ihm und bat ihn, mir zu zeigen, was er verbarg. Als ich versuchte, seine Finger aufzubiegen, leistete er Widerstand, begann sich zu wiegen, gab dann aber nach und öffnete die Hand, um ihren Inhalt in meine zu legen. In meiner feuchten Handfläche, vermischt mit Sand, schimmerte ein kleines schwarzes Röhrchen, das von winzigen Öffnungen durchbohrt war: ein Salzstreuer, der seltenste Schatz meiner Kindheit.

 
    Warum habe ich dieses Erlebnis lieber für mich behalten? Warum habe ich mich damit begnügt, Iannis zum Dank für das wertvolle Geschenk, das er mir soeben gemacht hatte, in die Arme zu schließen, statt sogleich ins Erdgeschoss zu laufen und seiner Mutter zu erzählen, was geschehen war? Vielleicht aufgrund eines Zweifels, immerhin bestand die Möglichkeit eines Zufalls, es war zwar unwahrscheinlich, aber ein Zufall würde erklären, warum dieses Fundstück in einer blindlings eingesammelten Handvoll Sand lag. Das wäre wahrscheinlich Helenas Antwort gewesen, und ich hatte keine Lust, das ironische Blitzen hinzunehmen, das zweifellos in ihren Augen geglänzt hätte.
    Doch ich musste mir eingestehen, dass mein Schweigen eine Art Pakt zwischen Iannis und mir besiegelte. Trotz seiner Augen, die sich nie auf etwas Bestimmtes richteten, trotz seiner mechanischen Armbewegungen hatte ihn meine Erzählung erreicht: meine Ferien in der Kindheit, der Strand, Antoine, die Lunten und die Salzstreuer. Ich wollte glauben, dass meine Gefühlsregungen ihn ergriffen hattenund er aufgrund einer außergewöhnlichen Wahrnehmungsfähigkeit einen jener Schätze von damals im feuchten Sand ausfindig machen konnte, der meinem Blick entgangen war.
    Ich war kaum angekommen, und schon war mein Bild von diesem Jungen erschüttert, waren meine Vorurteile hinweggefegt worden. Sogar meinen Gesten, die zärtlicher, umsichtiger geworden waren, konnte man es anmerken. Iannis dagegen hatte nichts an seinem Verhalten geändert, er überließ mir seine Finger, doch sein abwesender Blick irrte weiterhin umher, ohne meinem je zu begegnen.
    Bevor ich ihm half, in den Pyjama zu schlüpfen, begleitete ich ihn zur Toilette. Er schnappte meine Hand, führte mich bis zur Kloschüssel, öffnete den Deckel. Ich hatte den Gedanken aus meinem Kopf verbannt, dass meine Aufgabe so weit ging, Iannis bei so intimen Verrichtungen zu begleiten. Nie zuvor war ich einer solchen Nähe ausgesetzt gewesen, und da mir dabei unwohl war, wanderten meine Blicke zum Badezimmerfenster hinaus, während ich wartete, dass er fertig würde.
     
    In Horville, als ich noch sehr klein war, glaubte ich eines Tages, die Antwort gefunden zu haben auf die Fragen, die ich mir zu den mysteriösen Vorgängen rund ums Kinderkriegen stellte. Was ich auf der Toilette im Hotel loswerden musste, wurde ein kleines Wesen, das sich sanft von mir löste, in einer Art Anstrengung und Freude. Ich kam zu der Überzeugung: So war es, wenn Mütter gebären.
     
    Plötzlich drückte seine Hand meine so sehr, dass ich mich vor Schmerz nach ihm umwandte. Auf seinem bis dahin reglosen Gesicht hatten sich alle Anzeichen totaler Panik versammelt, sein Stöhnen war zu einem schrillen Schrei geworden. Er sprang vom Sitz auf, drehte sich um und wollte mit der Hand in die Kloschüssel eintauchen. Es gelang mir, ihn davon abzuhalten, doch es verblüffte mich, dass ich seine Geste sofort verstanden hatte, obgleich sie verrückt schien: Ein Teil von ihm würde in der Kanalisation verschwinden, diese Katastrophe musste er um jeden Preis verhindern. Um ihn zu beruhigen, legte ich meine Hand sanft an seinen Hinterkopf, drückte seine Stirn gegen meine Schulter und redete leise, beschwichtigend auf ihn ein. Wir werden die Spülung nicht betätigen, versprochen.
    In diesem Augenblick spürte ich, dass ein Blick auf meinen Schultern lag. Helena lehnte am Türrahmen, eine Zigarette in der Hand, und betrachtete die Szene.
    »Seit einer Woche ist er
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